Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
verkauft!«
»›Straithcairn‹?« Der junge Collins lachte verschmitzt. »Ich fürchte, ich werde niemals so ein erfolgreicher Schriftsteller werden wie mein Bruder Wilkie. Mit der ›Frau in Weiß‹ hat er bereits mehr verdient als ich mit meinen beiden Romamen zusammen. Wie Sie wissen, ist die Malerei eher meine Stärke. Da geht es mir wie meinem Vater.«
»Aber dein Großvater war doch Schriftsteller, nicht wahr?«
»Ja, Sir, aber er sah sich gezwungen, Irland zu verlassen und sich in England als Restaurator durchzuschlagen. Er war kein guter Geschäftsmann und konnte nicht im erforderlichen Maß für seine Familie sorgen.«
»In dieser Hinsicht haben wir viel gemeinsam, Charley. Nicht zuletzt deshalb bist du mir so ans Herz gewachsen. Darüber hinaus schätze ich natürlich deinen fachmännischen Rat.«
»Damit wären wir beim Thema. Sie wirken besorgt, und ich vermute, es geht um Ihren gegenwärtigen Roman. Außerdem habe ich mich gefragt, warum Sie mich in einen so entlegenen Bezirk wie Limehouse bestellt haben, weit entfernt von unseren Stammlokalen, wo uns Freunde und Kollegen über den Weg laufen könnten.«
Dickens seufzte. »Entlegen? Direkt um die Ecke, in der Church Row, hat mein Patenonkel, der alte Christopher Huffmann, Schiffsausrüstungen verkauft, Ruder, Masten und dergleichen. Im Haus des alten Huffmann hat mich mein Vater als kleines Kind auf den Tisch gestellt und verlangt, dass ich vor versammelter Mannschaft ein Lied singe. Er wollte mit mir angeben. Nein, Charley, dieser Bezirk ist für mich keineswegs entlegen. Der Roman ›Dombey & Sohn‹, den ich vor mehr als zwanzig Jahren schrieb, spielt übrigens auch hier.«
»Aber besorgt sind Sie trotzdem«, beharrte Charles Collins nach einem kurzen Schweigen.
Dickens kniff die Lippen zusammen und nickte widerstrebend. »Du hast ein feines Gespür, Charley. Ja, du hast recht. Ich bin besorgt.«
»Wegen des neuen Romans?«
Wieder nickte Dickens.
»Wollen Sie mir verraten, wovon er handelt?«
»Eine der Figuren, ein gewisser John, erbt ein Vermögen, unter der Bedingung, dass er heiratet. Das Mädchen heißt Bella Wheeler. John, der seit vierzehn Jahren nicht mehr in England war, kehrt unter falschem Namen nach London zurück, um sich ein Bild der Lage zu machen. Wenn er Bella nicht heiratet, fällt das Erbe einem Mann namens Boffin zu. John beginnt, als Boffins Sekretär zu arbeiten, und freundet sich sowohl mit ihm als auch mit Bellas Familie an. Deshalb lautet der Arbeitstitel ›Unser gemeinsamer Freund‹. Zum Schluß verlieben sich John und Bella, er enthüllt seine wahre Identität und tritt das Erbe an.«
Charles Collins verzog das Gesicht. »Es hört sich an wie eine romantische Verwechslungskomödie mit Happy End«, stellte er fest.
Dickens blickte finster drein. »Nein, genau das ist es nicht! Darin liegt das Problem. Es ist eine unerfreuliche Geschichte um Betrug und Habgier, pessimistisch und ohne Schwung. Ich höre noch immer die Worte dieser schrecklichen Mrs. Lewes – oder George Eliot, wie sie sich nennt –, die behauptet hat, es würde mir selten gelingen, einen Übergang von humoristischer Leichtigkeit zur gefühlsbetonten Tragik zu schaffen, ohne abzugleiten in … Ach, verflucht! Sie hat recht. Das Buch liest sich wie eine trockene These über Ethik und Moral, nicht wie ein Roman.«
»Mir ist schon aufgefallen, dass Sie in letzter Zeit das Leben pessimistischer betrachten als früher«, bemerkte sein Schwiegersohn ernst, doch Dickens ignorierte diesen Einwurf. »Die Erzählung ist staubtrocken«, fuhr er fort. »Es fehlt die Spannung, die Dramatik, das Geheimnis …«
Er hielt inne, denn plötzlich wurde die Tür des Nebenzimmers aufgerissen. Auf der Schwelle stand die Wirtin, eine rundliche Frau mittleren Alters. Sie wirkte beunruhigt.
»Herrgott, Mr. Dickens!«, stieß sie hervor, »ich weiß nicht ein noch aus!«
Beide Männer erhoben sich und eilten der Frau entgegen, die am ganzen Leib zitterte. Dickens nahm freundlich ihren Arm. »Be ruhigen Sie sich, Miss Mary«, beschwor er sie. »Setzen Sie sich, trinken Sie ein Glas Portwein auf den Schreck und erzählen Sie uns, was überhaupt passiert ist.«
»Portwein, Sir? Um Gottes willen! Wenn, dann würde ich mir einen Gin genehmigen. Aber das hat Zeit, Sir. Was ich viel dringender brauche, ist ein guter Rat. Rat und Beistand.«
»Was regt Sie denn so auf, Miss Mary?«, beharrte Dickens. »Wir wollen Ihnen helfen, so gut wir können.«
»Eine Leiche, Mr.
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