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Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)

Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)

Titel: Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Tremayne
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Miss Mary, Mr. Collins und ich werden uns die Leiche einmal anschauen. Keine Sorge. Fred hat nichts zu befürchten, wenn er offen und ehrlich ist.«
    Man verließ gemeinsam das Nebenzimmer. Das Gasthaus war krumm und schief, schien sich aber mit seinem Zustand soweit arrangiert zu haben, dass keinerlei Einsturzgefahr bestand. Im ganzen Haus gab es keine einzige gerade Fläche, die Fußböden waren regelrecht schräg, und doch stand das Gebäude schon viel länger da als seine schmucken Nachbarn und würde, aller Voraussicht nach, noch viele Jahre stehen. Die Außenfassade bestand fast nur aus Fenstern, eingerahmt von Fachwerk. Das Ganze ähnelte einem Stapel grob gezimmerter, aufeinander gestapelter Apfelsinenkisten. Eine windschiefe Holzveranda neigte sich über das Wasser. Tatsächlich schien sich das gesamte Bauwerk, einschließlich des knarrenden Fahnenmastes auf dem Dach, über den Fluss zu lehnen, wie ein zaghafter Taucher, der es nicht wagt, sich in die Fluten zu stürzen. Aber auch dieser Zustand herrschte schon so lange vor, dass davon auszugehen war, dass sich nichts daran ändern würde.
    Der finstere, dreieckige Nebenraum, in den weder Sonne, Mond noch Sterne drangen, galt als Inbegriff der Gemütlichkeit und wurde gern besucht. Miss Mary zwängte ihre stattliche Figur durch die Tür und begab sich, gefolgt von den beiden Männern, in den Schankraum. Gemeinsam ging man nach draußen. Die dunkle Gasse mit dem Kopfsteinpflaster, an beiden Seiten von Häusern flankiert, war so schmal, dass Kutschen nur knapp hindurchfahren konnten. Passenderweise hieß sie »Narrow Street«, »Enge Straße«. Sie verlief parallel zum Fluss und wurde von ihm nur durch solche Gebäude wie das »Grapes« getrennt.
    Miss Mary nahm eine Laterne vom Haken an der Tür und führte ihre Begleiter um die Ecke herum und eine schmale Stiege hinunter zum Flussufer. Dort wurden sie bereits von einem jungen Mann erwartet, der ebenfalls eine Laterne in der Hand hielt. Ihm zu Füßen zeichneten sich die dunklen Umrisse einer menschlichen Gestalt ab.
    »Gott sei Dank!«, stieß er hervor. »Ich dachte schon, ich müsste bis in alle Ewigkeit hier ausharren!«
    Dickens und Collins beugten sich über den Toten. Beim Lichtschein der Laterne sahen sie, dass es sich um einen gutgekleideten Mann um die dreißig handelte. Er trug einen Anzug aus Broadcloth, einem hochwertigen dunklen Wollstoff, und ein Oberhemd, das vermutlich einmal weiß gewesen, aber vom schmutzigen Wasser und Schlamm dunkel verfärbt war.
    »Ein stattlicher Mann«, kommentierte Collins, nachdem er das Gesicht betrachtet hatte.
    »Und einer, der Wert auf gutes Auftreten legte«, ergänzte Dickens.
    »Wie kommen Sie darauf?«
    Dickens nahm eines der Handgelenke, führte den Arm des Toten näher an die Laterne und zeigte seinem Gefährten die gepflegten Fingernägel. »Die Arme weisen noch keine Totenstarre auf«, bemerkte er. »Lange kann der Mann nicht tot sein.«
    Er suchte nach Zeichen äußerer Gewaltanwendung.
    »Schauen Sie sich mal den Schädel an, mein Herr«, sagte der junge Mann. »Ist eingeschlagen worden, sehen Sie?«
    »Sie sind Fred, nicht wahr?«, vergewisserte sich Dickens.
    »Jawoll.«
    »Wie kam es, dass Sie den Leichnam hier fanden?«
    »Ich bin hier runtergegangen, um …« – er zögerte, als er Miss Marys warnenden Blick sah und überlegte offenbar noch mal, was er sagen wollte. »Um den Abfall auszuleeren«, fuhr er fort. »Da lag er, halb im Wasser und halb am Ufer. Hab ihn rausgezogen und Miss Mary geholt.«
    »Sie haben ihn durchsucht, wie uns Miss Mary sagte. Hatte er etwas bei sich, das ihn identifizieren könnte?«
    »Nichts hatte er bei sich. Ehrenwort.«
    Dickens konnte sich ein verstohlenes Lächeln nicht verkneifen. »Überhaupt nichts?«
    »Nein, wenn ich’s Ihnen doch sage.«
    »Nun gut, Fred, dann gehen Sie jetzt schnurstracks zur Wapping-Steps-Wache. Das ist das nächste Polizeirevier. Holen Sie einen Polizisten. Der Arm des Gesetzes soll sich der Sache annehmen. Und Sie, Miss Mary, sollten zu Ihren Gästen zurückkehren. Hier gibt es nichts mehr für Sie zu tun.«
    Sobald sich Fred und die Wirtin entfernt hatten, durchsuchte Dickens systematisch die Taschen des Mannes. Collins feixte. »Sie erwarten doch nicht wirklich, da noch etwas zu finden, oder?«
    »Man sollte nie etwas erwarten, dann wird man auch nicht enttäuscht. Aber Gründlichkeit ist nie verkehrt.«
    »Diese Leute, die am Fluss nach Verwertbarem suchen, haben ihn doch bestimmt

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