Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
Grundstück, mit einem Begleitschreiben, in dem Wraybrook ein Honorar von einer Guinee angeboten wurde, sollte er bereit sein, sich der Sache anzunehmen. Dickens legte die Papiere zurück auf den Schreibtisch und schaute sich im Zimmer um. »Es sieht so aus, als wäre das Büro kaum benutzt worden«, bemerkte er. »Wie es scheint, hatte Mr. Wraybrook nicht viele Mandanten.«
Das nächste Zimmer war ein Wohnraum. Auf einem Beistelltisch stand eine Öllampe mit einem stabilen Messingfuß. Der Glassturz mit den Ornamenten und der Umrandung aus geschliffenen Kristallen, befestigt an winzigen Messingringen, wirkte überladen.
»Zünde die Lampe an, Charley«, sagte Dickens. »Ich kann hier im Zimmer keine Gaslampe finden.«
Collins entfernte den Sturz und entzündete den Docht. Die Kristalle klirrten leise, als er den Sturz wieder an seinen Platz setzte.
Hinter der nächsten Tür befand sich das Schlafzimmer. Collins ging Dickens voran. Auch dieser Raum war nur spärlich möbliert. Offensichtlich hatte Mr. Wraybrook kein sehr luxuriöses Leben geführt. Was im Zimmer stand, ließ sich mit einem Blick erfassen. Am Fußende des Bettes entdeckten sie eine Truhe aus Blech – ein Zeichen dafür, dass der Besitzer auf Reisen gewesen war. Im Kleiderschrank hingen ein einziger Anzug und ein paar Oberhemden, in der Kommode befanden sich nur einige Socken und Unterwäsche.
»Gene! Ich dachte … O je!«
Die Stimme kam von der Tür. Dickens und Collins drehten sich um und standen einer jungen Frau gegenüber. Sie war ärmlich gekleidet und unterschied sich in dieser Hinsicht nicht von den übrigen Bewohnern der Narrow Street.
Sie wirkte ein wenig verängstigt, erkundigte sich aber keck: »Was wollen Sie hier? Wo ist Gene – ich meine, Mr. Wraybrook?«
»Wir sind diejenigen, die hier die Fragen stellen, junge Frau«, entgegnete Dickens und bemühte sich um eine strenge, gebieterische Haltung. »Wer sind Sie überhaupt?«
»Polizei, was?«, erwiderte das Mädchen.
»Ihr Name, bitte«, beharrte Dickens in offiziellem Ton.
»Beth Hexton. Ich wohne hier.«
Der Cockney-Akzent passte nicht zum zarten Gesicht der jungen Frau. Ungeachtet ihres Bildungstands war sie, wie Collins jetzt bemerkte, hinreißend anzusehen, eine ätherische Schönheit wie auf den Bildern von Millais, Rossetti und Hunt, die Collins so bewunderte. Sie wäre für jeden präraffaelitischen Maler das perfekte Modell gewesen.
»Wo, hier in diesen Räumen?«, erkundigte er sich.
»Nicht doch!«, entgegnete sie geringschätzig, »aber in diesem Haus! Mein Vater ist Gevatter Hexam«, fügte sie hinzu, als ob damit alles erklärt wäre.
»So, so, Gevatter Hexam«, sagte Dickens schmunzelnd. »Und wer soll das sein?«
»Ihm gehören zwei Wagerbuts auf der Themse. Ich dachte, die Polizei kennt ihn.«
Wagerbuts waren leicht gebaute Skullerboote, mit denen häufig Wettbewerbe veranstaltet wurden.
»Er lebt von dem, was er am Ufer der Themse findet?«, fragte Dickens vorsichtig.
»Jeder muss sehen, wie er über die Runden kommt«, entgegnete das Mädchen.
»Wie gut kennen Sie Mr. Wraybrook?«
Beth errötete. »Wir sind Freunde. Er ist ein echter Gentleman.«
»Aha, Freunde.«
»Ja, sag’ ich doch. Was ist mit ihm? Wo habt ihr ihn hingebracht?«
Sie vernahmen ein Geräusch im Nebenzimmer. Als sie sich umdrehten, sahen sie gerade noch, wie ein untersetzter, dunkelhaariger Mann eilig die Wohnung verließ.
»Wer war das?«, fragte Collins.
»Der?«, schnaubte die junge Frau verächtlich. »Bert Hegeton.«
»Und wer ist Bert Hegeton?«
»Ach, er arbeitet hier in der Gegend als Lehrer. Hält sich für etwas Besonderes. Bildet sich ein, er würde mir gefallen. Da täuscht er sich aber gewaltig. Seit ich mit Gene – mit Mr. Wraybrook – ausgehe, ist er verstimmt.«
Dickens hob die Brauen und warf Collins einen Seitenblick zu. So liberal seine Ansichten auch waren, so erschien es ihm doch ungewöhnlich, dass dieses Mädchen mit einem Rechtsanwalt »aus gegangen « war. Aber andererseits war sie wirklich sehr attraktiv, und wenn sich schon ein Lehrer um sie bemühte, warum nicht auch ein Jurist?
Ein heiseres Hüsteln unterbrach seine Überlegungen. Sergeant Cuff, der kräftig gebaute Polizist, war eingetroffen. »Nun, Mr. Dickens«, sagte er »vorhin wussten Sie noch nicht, wer der Tote ist, und jetzt stehen Sie schon mitten in seiner Wohnung.«
Beth schrie entsetzt auf. Ihr Gesicht war blass, sie hielt die Hand vor den Mund und sah den Polizisten
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