Das Flüstern der verlorenen Seelen: Kriminalgeschichten mit Schwester Fidelma u. a. (German Edition)
gestritten«, sagte ich. »Worum mag es in ihrem Disput gegangen sein?«
»Also wirklich, Sherlock«, wies mich mein Bruder zurecht, »musst du ständig deine Nase in fremde Angelegenheiten stecken? Hast du nicht genug zu tun, dich auf dein Studium in Oxford vorzubereiten?«
Bereits zu jener Zeit beschäftigte ich mich intensiv mit den Verhaltensweisen meiner Mitmenschen, und ich schämte mich nicht im Geringsten, die übrigen Gäste neugierig zu beäugen.
Indessen saß der Colonel allein an seinem Tisch und stierte missmutig in sein Glas. Ein Kellner näherte sich ihm und machte zaghafte Vorschläge. Moran fuhr ihn zornig an und deutete auf die leere Weinflasche, woraufhin sich der Mann hastig entfernte. Der Colonel stand auf, strich sich den Mantel glatt und verließ den Speisesaal. Da er sein Glas nicht geleert hatte, wusste ich, dass er die Absicht hatte, zurückzukehren – und siehe da, der Kellner eilte mit einer halbvollen Rotweinflasche herbei und stellte sie auf Morans Tisch. Nach ungefähr einer Viertelstunde kam der Colonel, der sich, wie ich vermutete, ein wenig frisch gemacht hatte, an seinen Tisch zurück. Seine Laune hatte sich gebessert; er lächelte vor sich hin.
Mycroft lenkte mich von meinen Beobachtungen ab, indem er seine Moralpredigt fortsetzte: »Ich kenne dich, Sherlock. Du bist ein extrem fauler und undisziplinierter Bursche. Alles, was nicht spontan dein Interesse weckt, wird einfach ignoriert. Es wundert mich, dass dir ein Halbstipendium zuerkannt wurde. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass du überhaupt einen akademischen Abschluß erwirbst.«
Schmunzelnd entgegnete ich: »Dass wir Brüder sind, heißt nicht, dass wir einander ähnlich sein müssen. Deine Schwäche ist deine Vorliebe für gutes Essen und Wein. Die Völlerei und der Mangel an Bewegung werden eines Tages ihren Tribut fordern.« Ich fühlte mich ziemlich überlegen, da ich während meiner Jahre am Trinity College beim Fechten und Boxen einige Medaillen gewonnen hatte und auch beim Stockfechten als viel versprechendes Talent galt.
»Aber du solltest dir beizeiten überlegen, für welchen Beruf du dich eignest, Sherlock. In unserer Familie ist es üblich, in den Staatsdienst zu treten, Jurist zu werden oder eine akademische Laufbahn einzuschlagen, doch ich weiß nicht, ob es dir gelingen wird, dich für einen dieser Berufe zu qualifizieren, so leicht, wie du dich von der geringsten Kleinigkeit ablenken lässt.«
»Aber es sind doch gerade die Kleinigkeiten…«, setzte ich an, brach aber mitten im Satz ab, als der bleiche Kellner in den Speisesaal stürzte, zum Tisch eilte, an dem der Herzog von Cloncury und Straffan gesessen hatte, den Tisch sowie die Sitzflächen der Stühle absuchte und dann zu meinem maßlosen Erstaunen – dergleichen hatte ich noch nie gesehen – auf Händen und Knien unter den Tisch kroch, um dort die Suche fortzusetzen. Als er wieder auftauchte, waren seine fahlen Züge von der Anstrengung leicht gerötet, aber fündig war er offenbar nicht geworden. Der Oberkellner trat ein und schaute sich mit sorgenvoller Miene um. Die beiden Männer unterhielten sich gestikulierend und kopfschüttelnd. Dann verließ der Oberkellner den Saal.
Als der Kellner an uns vorbeiging, sprach ich ihn an, obwohl ich wusste, wie sehr Mycroft meine Neugier mißbilligen würde. »Hat der Herzog etwas verloren?«, fragte ich.
Der Kellner, derselbe Mann, der uns zu unserem Tisch geleitet hatte, sah mich leicht argwöhnisch an. »Ja, Sir«, erwiderte er. »Wo her wissen Sie das?«
»Ich habe gesehen, wie Sie den Tisch, an dem er saß, absuchten. Daraus habe ich gefolgert, dass er etwas verloren hat, das er beim Essen noch bei sich hatte.«
Der Mann wirkte ein wenig enttäuscht von der schlichten Logik meiner Antwort.
»Was hat er denn verloren?«, beharrte ich.
»Sein Necessaire, Sir.«
»Ein Necessaire?«, fragte Mycroft feixend, »warum um Himmels willen hat er sein Necessaire mit in den Speisesaal gebracht?«
»Der Herzog ist äußerst penibel und ein wenig exzentrisch, Mr. Holmes«, antwortete der Kellner. »Er trägt das Necessaire immer bei sich.«
»Ist es besonders wertvoll?«, erkundigte ich mich.
»Nein, Sir, eigentlich nicht. Zumindest nicht, was den materiellen Wert angeht.«
»Aha, Sie meinen wohl, dass es für den Herzog einen besonderen ideellen Wert besitzt?«
»Nun, das Necessaire wurde einem Vorfahren des Herzogs von König William III. in Anerkennung besonderer Dienste geschenkt. Bei der
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