Das Fluestern des Todes
scheren, was er mit seinem Leben angestellt hatte.
Er war sich nicht mal sicher, ob er sich wirklich so sehr verändert hatte. Sicher, wenn er an die Gespräche mit Ella Hatto zurückdachte, konnte er sich einreden, dass die Zeit für den Neuanfang gekommen war – aber vielleicht machte er sich ja auch nur etwas vor.
Hier saß er in einem Auto, hundert Meter von ihrem Haus entfernt, die Kamera mit Teleobjektiv im Anschlag – glaubte er wirklich ernsthaft, dies war der angemessene Weg, um mit seiner alten Liebe und ihrer gemeinsamen Tochter in Kontakt zu treten? Er stellte seiner eigenen Tochter nach, er wusste gar nicht, wie er sich ihnen anders hätte nähern sollen – das war die bittere Realität.
Er überlegte, ob er die Aktion abbrechen und ins Hotel zurückkehren sollte – oder besser gleich in die Schweiz –, als sich die Tür erneut öffnete. Er hob die Kamera gerade noch rechtzeitig, um wieder das dunkelhaarige Mädchen zu sehen, dann aber auch ein anderes Mädchen – und das kam ihm so bekannt vor, dass er vor Aufregung zusammenzuckte. Er musste sich auf dem Lenkrad abstützen, um die Kamera in seinen zitternden Händen ruhig zu halten.
Sie war blond und hatte relativ kurze Haare, während Madeleine sie immer lang getragen hatte. Doch davon abgesehen war es Madeleine – Madeleine im Alter von vierzehn Jahren. Mit Erleichterung registrierte er, dass nichts in ihrem Gesicht an den Vater erinnerte. Sie kam ganz nach ihrer Mutter – und sie war wunderschön.
Sie entfernten sich in die entgegengesetzte Richtung, was ihn kurzfristig verunsicherte. Eine Sekunde lang konnte er sich nicht entscheiden, ob er im Auto bleiben und warten oder ihnen folgen sollte. Die Unentschlossenheit währte nicht lange: Schließlich war er nicht hier, um ihr Haus zu beschatten, sondern um seine Tochter zu sehen.
Er schob die Kamera unter den Beifahrersitz, griff sich sein Buch und überquerte die Straße. Er ging zunächst zügig, drosselte aber dann das Tempo, als er sicher war, sie nicht mehr aus den Augen zu verlieren.
Er war ihnen so nah, dass er ihre Stimmen hörte und ihr Lachen, und wenn sich die Freundinnen gegenseitig anblickten, sah er das Profil ihres Gesichtes und verspürte gleich wieder ein nervöses Zucken: Was, wenn sie sich plötzlich umdrehte und ihn entdeckte? Einerseits hoffte er, dass genau das passierte, dass sie einen Blick auf den Mann hinter ihr warf, um dann stehen zu bleiben, zu stutzen – und instinktiv zu wissen, wer er war.
Er folgte ihnen zu einem Café, ging aber nicht hinein: Selbst hier in Paris würde es auffallen, wenn er ein englisches Buch las. Er kaufte sich eine Ausgabe von Le Monde , wartete noch eine Weile und ging dann durch die Tür.
Das Café war gut besucht, doch es gab noch immer einige leere Tische, von denen aus er einen freien Blick auf seine Tochter hatte, ohne gleich in ihrer Nähe sitzen zu müssen. Ein junger Kellner trat gerade an ihren Tisch, und sie sprachen mit ihm in dem schnöseligen, fast schon unverschämten Tonfall, den die Kinder neureicher Eltern so an sich hatten. Er war ein wenig ernüchtert. Er hatte gehofft, sie wäre so wie Ella Hatto, die nicht gewusst hatte, wie reich sie war, und sich dementsprechend zivil und höflich verhalten hatte.
Möglicherweise war es aber auch nur gespielt: Der Kellner gab eine Antwort, woraufhin sie so laut loslachten, dass sich einige Gäste pikiert umdrehten. Die Aufmerksamkeit schien ihnen peinlich zu sein, und sie verhielten sich anschließend etwas unauffälliger.
Lucas bestellte bei einem anderen Kellner einen Kaffee und beobachtete, wie die Mädchen ihre Getränke serviert bekamen. Sie waren jetzt die Freundlichkeit in Person und unterhielten sich angeregt mit dem Kellner. Vielleicht kannten sie ihn ja bereits. Letztlich gab es keinen Grund, dem Vorfall besonderes Gewicht beizumessen, aber Lucas fühlte sich trotzdem erleichtert.
Er bekam seinen Kaffee und tat so, als würde er die Zeitung studieren – was sich aber als eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme entpuppte, da die Mädchen nicht in seine Richtung schauten. Inzwischen nahm er sein Talent, völlig in der Menge untertauchen zu können, als gegeben hin – er fand es inzwischen fast unerträglich. Er hatte einmal in einem belebten Restaurant in Hamburg einen Auftragsmord ausgeführt – und nicht ein einziger Augenzeuge hatte anschließend eine halbwegs brauchbare Beschreibung von ihm liefern können. Sie hatten sich sogar komplett widersprochen: Mal
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