Das Fluestern des Todes
noch immer nicht das Bedürfnis verspürte, sich mit ihnen zu unterhalten. Er hatte noch nicht lange gesessen, als eine ältere Dame am Nachbartisch Platz nahm. Lucas tat so, als habe er ihr freundliches Lächeln nicht bemerkt.
Er hörte, wie sie einen Bellini bestellte. Sie hatte einen schottischen Akzent – aus Edinburgh möglicherweise –, und er überhörte einen weiteren Wortwechsel, als ihr Getränk serviert wurde. Er vertiefte sich in sein Buch und war überrascht, dass er kurz darauf erneut ihre Stimme hörte.
»Entschuldigen Sie, falls ich zu aufdringlich sein sollte, aber ist dies Ihr erstes Mal?« Er sah auf. Da er davon ausgegangen war, dass sich inzwischen jemand anders zu ihr gesetzt hatte, wurde er von ihrem neugierigen Lächeln mit voller Wucht getroffen. Er hatte wohl keine andere Wahl, als diese Standardfrage unter Touristen zu beantworten.
»Nicht das erste Mal in Paris, nein. Aber in diesem Hotel war ich noch nie.«
»Nein, mein Lieber, das meinte ich gar nicht.« Sie lächelte wieder und zeigte auf sein Buch. »Ich meine, ob es das erste Mal ist, dass Sie Stolz und Vorurteil lesen?«
»Oh, ich verstehe.« Er lachte. »In der Tat. Man hat mir Jane Austen empfohlen, und seither kann ich gar nicht genug von ihr kriegen: Mansfield Park , Die Abtei von Northanger Abbey und Überredung – das ist bis jetzt mein Lieblingsbuch von ihr.«
»Das geht mir genauso, es ist wirklich ganz reizend. Streckenweise natürlich auch eine erschütternde Lektüre, vor allem wenn man an Jane Austens persönliche Vita denkt, aber letztlich doch ein Loblied auf das Leben. Finden Sie nicht? Es ist im Leben nie zu spät, falsche Entscheidungen zu revidieren.«
Er hatte bisher noch nicht darüber nachgedacht, warum er das Buch eigentlich mochte, aber vielleicht war da ja was Wahres daran: die Hoffnung auf die Zukunft – unabhängig davon, wie katastrophal die Vergangenheit auch verlaufen war.
»Und Sie glauben wirklich daran, dass es nie zu spät ist?«
»Absolut. Ich hab’s mit eigenen Augen erlebt, genau wie ich Menschen getroffen habe, die ihr Leben im Selbstmitleid ertränken und nie auf den Gedanken kommen, dass man sich immer noch ändern kann. Was für eine deprimierende Aussicht, so sein Leben zu leben.«
»Da haben Sie wohl recht.«
Sie lächelte. »Und sagen mir noch eines, mein Lieber: Sind Sie etwa allein hier? Das wäre aber wirklich eine Schande.«
»Ich bin gewohnt, alleine zu reisen. Eine Geschäftsreise.«
»Trotzdem.«
Er hatte den Eindruck, dass sie ihm nicht glaubte. Um nicht weiter in die Enge getrieben zu werden, kam er ihr mit einer Frage zuvor. »Reisen Sie denn nicht auch alleine?«
»Um Gottes willen, nein. Mein Gatte hat sich früh hingelegt, weil er es gestern Nacht ein wenig übertrieben hat. Und mein Sohn und seine Frau machen gerade eine nächtliche Bootspartie auf der Seine. Vielleicht lernen Sie sie ja noch kennen, sie müssten eigentlich bald zurück sein.«
»Um ehrlich zu sein, werd ich mich wohl bald verabschieden. Ich habe morgen einen anstrengenden Tag vor mir.« Die Unterhaltung war durchaus angenehm, aber die Bekanntschaft mit dem Nachwuchs wollte er nun doch vermeiden. Möglicherweise würden sie nur fragen, was er beruflich machte, ob er Familie habe – und ob er vielleicht noch etwas mit ihnen trinken wollte. So ausgeprägt war sein Kontaktbedürfnis nun auch wieder nicht.
»Wie schade.« Und wieder schaute sie ihn an, als könne sie geradewegs in sein Innerstes sehen. »Trotzdem vielen Dank, dass Sie mit mir geplaudert haben.«
»Ich habe zu danken.«
»Danken wir Jane Austen.«
Er lächelte und nahm sein Buch – erleichtert, dass ihr Gespräch ein Ende gefunden hatte, bevor Namen und andere Personalien ausgetauscht werden konnten.
Er fühlte sich gut. Diese simple Form von Kommunikation mochte für die meisten Menschen völlig normal sein, doch für ihn war es ein großer Schritt. Er mochte auch, was sie ihm gesagt hatte, weil es seiner Entschlossenheit, mit Madeleine in Kontakt zu treten, nur noch weiteren Auftrieb gab.
Er hatte sich geändert in diesen fünfzehn Jahren, aber sie mit Sicherheit auch. In seiner Erinnerung war noch immer das Bild einer Frau, die wütend und verbittert war, doch die Zeit würde auch diese Narben geheilt haben. Alles andere wäre widernatürlich. Er musste nur mit ihr sprechen – dann würde sie schon erkennen, dass man inzwischen wieder mit ihm auskommen konnte.
Am nächsten Morgen war seine Zuversicht verflogen. Er
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