Das Fluestern des Todes
fand einen Parkplatz, der etwas näher bei ihrem Haus lag, und verfolgte, wie sich die Hitze langsam auf die Straße senkte. Er wollte warten, bis ihre Tochter das Haus verließ, um dann rüberzugehen und zu klingeln.
Das zumindest war der Plan, doch ältere Damen und Jane Austen waren nur die eine Seite der Medaille. Hier im grellen Morgenlicht konnte er den Gedanken nicht verdrängen, dass Madeleine sein Erscheinen nur als einen weiteren Verrat auffassen würde, der längst vergessene, bittere Erinnerungen heraufbeschwörte.
Natürlich würde er ihr sagen, dass er mit seinem früheren Leben endgültig abgeschlossen hatte, doch die Vorstellung, dass sein bloßes Wort ihre Einstellung ändern würde, war völlig unrealistisch. Wenn er jetzt zu ihrem Haus ging, würde er vielleicht sogar die Tür für immer zuschlagen.
Er war um 9 Uhr 20 angekommen und fragte sich inzwischen, ob sie das Haus vielleicht schon vorher verlassen hatten – oder sich gar nicht mehr in Paris aufhielten. Doch kurz nach zehn trat eine junge Frau Anfang zwanzig aus der Tür und ging an seinem Wagen vorbei.
Sie trug eine Mappe unter dem Arm und sah wie eine Studentin aus. Auch wenn er für seine Vermutung keine konkreten Anhaltspunkte hatte, ging Lucas instinktiv davon aus, dass sie eine Musiklehrerin war. Mit Sicherheit hatte Madeleine ihre Tochter motiviert, ein Instrument zu spielen – das Klavier, hoffte er, genau wie Madeleine selbst es gespielt hatte –, aber mit ihren vierzehn Jahren hätte man ihre Ausbildung vermutlich in die Hände einer älteren, erfahreneren Person gelegt. Wenn das Mädchen wirklich eine Musikstudentin war, dann musste es noch jüngere Kinder im Haus geben, die heute Morgen eine Unterrichtsstunde bekommen hatten.
Da er über all diese Details aber nur spekulieren konnte, ließ er seiner Fantasie freien Lauf. In der nächsten halben Stunde stellte er sich vor, wie das Leben hinter der Tür wohl aussehen könnte. Er füllte die Erinnerungen, die er noch immer an das herrschaftliche Haus hatte, mit imaginären Familien, in deren Mittelpunkt stets Madeleine stand.
Plötzlich fuhr jemand im Wagen vor und betätigte die Hupe. Er richtete sein Objektiv auf den Fahrer, konnte aber durch die reflektierende Windschutzscheibe nichts erkennen. Als er zur Tür hinüberblickte, sah er, wie seine Tochter gut gelaunt herauskam und sich schwungvoll auf die Rückbank setzte.
Er legte die Kamera zur Seite, als der Wagen in seine Richtung fuhr. Er warf einen Blick auf den Fahrer – eine Frau mittleren Alters – und die zwei Mädchen auf dem Rücksitz. Sie sprachen miteinander, und für den Bruchteil einer Sekunde konnte Lucas das Gesicht seiner Tochter erkennen. Fast hatte er den Eindruck, als schaute sie hinüber und lächelte ihm zu.
Ohne nachzudenken, stieg er aus dem Wagen, ging zum Haus und drückte die Klingel. Umgehend hörte er Geräusche von innen. Mit dem jüngeren Kind hatte er wohl richtig vermutet: Aufgeregtes Geschrei ertönte, gefolgt von einer verständnisvoll zurechtweisenden, erwachsenen Stimme, die immer lauter wurde, je näher sie der Tür kam. Sie öffnete sich, und er sah in das Gesicht eines Dienstmädchens.
»Hello. Do you speak English?« Sie warf ihm einen Blick zu, als würde er die Situation nur unnötig verkomplizieren, sagte dann aber etwas auf Französisch, das er dahingehend interpretierte, dass er doch bitte hier warten möge.
Bevor sie die Tür wieder schloss, sah er kurz einen kleinen blonden Jungen in einer langen Hose und einem T-Shirt. Er schaute Lucas an, lief nach dem ersten Blickkontakt aber sofort wieder ins Haus zurück.
Als sich die Tür wieder öffnete, stand Madeleine vor ihm. Sie trug ein einfaches rotes Sommerkleid und hatte ihre Haare locker zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie hatte noch immer eine perfekte Figur, und ihr Gesicht strahlte so jung und frisch wie auf dem Foto, das er von ihr besaß.
Er war überwältigt, dass sie noch immer so attraktiv wie früher war. Einen Augenblick lang konnte er nicht sprechen, und was immer sein plötzliches Auftauchen in ihr ausgelöst haben mochte, ließ sie offensichtlich ebenfalls verstummen. Es war, als ob sie sich an die angemessene Reaktion zu erinnern versuchte – an eine Situation, die sie sicher in ihrem Kopf bereits mehrfach durchgespielt hatte.
»Hallo, Madeleine. Ich habe gewartet, bis sie aus dem Haus ist.« Der Bann war gebrochen, doch der Klang seiner Stimme war scheinbar alles, was sie noch brauchte, um
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