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Das Fluestern des Todes

Das Fluestern des Todes

Titel: Das Fluestern des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Wignall
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war er groß, dann klein, mal blond, dann rothaarig, Brille, Sonnenbrille, nein, definitiv gar keine Brille – es war, als habe er den Zeugen unter Hypnose befohlen, ihn umgehend wieder zu vergessen.
    Lucas hatte sie etwa zehn Minuten beobachtet, als ein weiteres Mädchen und zwei Jungs dazu stießen. Das Mädchen und einer der Jungs waren offensichtlich Geschwister, während der Dritte der Freund des Mädchens zu sein schien. Mit dem Kellner wurde weiterhin heftig gescherzt.
    Vielleicht war dies ja ihr Stammlokal. Er dachte kurz darüber nach, ob er aus seinem Besuch eine tägliche Routine machen sollte, aber selbst in diesem Café würde sein Gesicht irgendwann auffallen. Nein, er musste improvisieren. Wenn sie das Café verließ, würde er langsam zum Auto zurückgehen und ins Hotel fahren. Am Morgen würde er zum Haus zurückkommen, um vielleicht auch einen Blick auf Madeleine zu erhaschen.
    Und dann würde er entscheiden, wie er seine Tochter kontaktierte – entweder persönlich oder per Brief. Wobei Madeleine einen Brief natürlich abfangen könnte, aber auch daran sollte es nicht scheitern: Er würde einfach warten, bis das andere Mädchen wieder vorbeikam, ihr den Brief in die Hand drücken und sagen, sie möge ihn doch … ja, wem eigentlich geben? Als Erstes musste er ihren Namen herausfinden.
    Inzwischen ärgerte er sich, dass er so weit weg saß. Ihre Stimmen waren kaum vernehmbar, aber er spitzte trotzdem seine Ohren in der Hoffnung, dass sie vielleicht einmal mit Namen angesprochen würde. Er hörte ein Mischmasch französischer Worte, die zwar alle halbwegs vertraut klangen, aber trotzdem keinen Sinn ergaben. Doch je länger er sich konzentrierte, umso faszinierter war er von ihrem Gesicht, ihrer Mimik, dem Lächeln, den nachdenklichen Blicken, den provokant hochgezogenen Augenbrauen. Der Gedanke, dass er ihre Kindheit verpasst hatte, deprimierte ihn. Dass all diese wundervollen Gesichtsausdrücke an ihm vorbeigegangen waren.
    Es waren verlorene Jahre – Jahre, in denen er ihr hätte vorlesen können, in denen er die wichtigen Stationen ihres Heranwachsens verfolgt hätte, die Geburtstage, den Schwimmkurs, das erste Fahrrad – die Dinge eben, die Väter gewöhnlich mit ihren Kindern machen. Aber all das hatte sie ohne ihn getan, während er in dieser unschuldigen Phase ihres Lebens vermutlich hundert Menschen ermordet hatte.
    Zufällig sah er aus dem Augenwinkel, dass der Bruder ihn wohl dabei beobachtet hatte, wie er seine Tochter anstarrte, und nun mit spöttischem Grinsen zu ihm hinübersah. Er beugte sich über den Tisch und sagte offensichtlich etwas zu den anderen. Lucas riss die Zeitung hoch, um sein Gesicht zu verdecken.
    Er konnte nicht glauben, dass man ihn ertappt hatte, und wand sich bei der Vorstellung, wie sie den Vorfall wohl interpretieren würden. Sein Herz raste, weil er genau wusste, dass sie in diesem Moment zu ihm hinüberschauten.
    Ihrem unbefangenen Umgang mit dem Kellner nach zu urteilen, hielt er es sogar für durchaus möglich, dass sie an seinen Tisch kommen würden. Er lachte trocken bei dem Gedanken, dass er sich hinter seiner Zeitung versteckte, weil er ganz offensichtlich Angst vor fünf vierzehnjährigen Kindern hatte. Er blieb fünf Minuten in dieser Position sitzen, bevor er das Café verließ und sorgsam darauf achtete, beim Herausgehen in eine andere Richtung zu schauen.
    Als er zurück zum Auto ging, fühlte er noch immer das Adrenalin in seinem Körper. Er hatte sie gesehen. Sie war wunderschön, hatte nette Freunde und war offensichtlich sehr beliebt. Doch mit dem Adrenalin kam auch das Verlangen, kam der brennende Wunsch, dass dies erst der Anfang und nicht schon das Ende sei.
    Natürlich war sein Verhalten rücksichtslos. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was in ihrem Kopf vorging, ob sie überhaupt von seiner Existenz wusste. Sie führte offensichtlich ein glückliches, erfülltes Leben – und sein Erscheinen könnte womöglich eine ähnlich katastrophale Wirkung haben wie ein Todesfall in der Familie. Zugegeben, es war ein egoistischer Impuls, aber irgendwie musste es ihm gelingen, einen Zugang zu ihrem Leben zu finden. Es war fast schon so etwas wie eine spirituelle Erleuchtung, die ihm plötzlich verkündete, dass sein Leben ansonsten überhaupt keinen Sinn mehr hatte.
    Nach dem Abendessen setzte er sich mit seinem Buch in die Bar. Sein neu gewonnener Optimismus hatte in ihm den Wunsch geweckt, sich unter andere Menschen zu mischen – auch wenn er

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