Das Fluestern des Todes
Angebot, sondern mehr der Versuch, die Lage ein für allemal zu klären. Ihr Zögern war ihm Antwort genug. »Ich bin den ganzen Sommer über zu Hause«, sagte er und ging hinaus.
Sie war erschöpft. Sie wusste nicht, wie sie künftig überhaupt noch mit Menschen kommunizieren sollte. Vielleicht sollte sie ihm einen Brief schreiben – und dann, bei Semesteranfang, wäre vielleicht alles wieder so wie früher.
Sie hörte Stimmen von unten, das Schlagen einer Tür, das vage Geräusch eines Autos, das sich vom Haus entfernte. Ebenso undeutlich meldete sich in ihrem Kopf eine Stimme zu Wort, die sie vorwurfsvoll darauf hinwies, dass er den weiten Weg nur wegen ihr gemacht habe, dass er vielleicht sogar hiergeblieben wäre, um ihr in dieser schweren Phase zu helfen – ein Liebesbeweis, den sie schnöde zurückgewiesen hatte.
Es klopfte wieder an der Tür, diesmal ganz vorsichtig. Sie musste nicht ins reflektierende Fenster schauen, um zu wissen, dass es Simon war. Er trat ein und legte seine Hand auf ihre Schulter.
Sie hob ihre eigene Hand und umklammerte die seine. »Tut mir leid.«
»Nein, mir tut es leid. Ich hatte gehofft, es würde dich auf andere Gedanken bringen.« Er machte eine lange Pause, bevor er weitersprach. »Mit Sicherheit würden sie es auch nicht wollen, dass du dich wegen ihnen so quälst.« Irgendwie empfand er die Aussage selbst als aufgesetzt und hohl – wie eine Phrase aus einem billigen Fernsehfilm – und schämte sich, sie überhaupt ausgesprochen zu haben.
»Wirklich nicht? Woher willst du das wissen?« Sie drehte sich um und schaute ihn an. Er wirkte peinlich berührt, fast schon eingeschüchtert. »Wenn ich einmal sterbe, möchte ich zumindest eine Person zurücklassen, die so verzweifelt ist, wie ich es jetzt bin. Ich will jemanden traurig machen, damit mein Leben eine Bedeutung hat.«
Er lächelte resigniert. »Wir hatten doch vereinbart, nicht mehr über den Tod zu reden.«
»Gib mir nur noch diesen Sommer. Einen Sommer, um den Verlust meiner Familie zu betrauern – das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Aber überleg dir noch mal, ob du im September nicht doch mit Chris verreisen willst. Denk drüber nach. Es würde dir guttun.«
Sie nickte. Er lächelte noch mal und zog leise die Tür hinter sich zu. Am liebsten hätte sie laut geschrien. War sie denn die einzige Person auf der Welt, die wirklich verstanden hatte, was hier passiert war?
Sie sah zum Telefon hinüber und musste unwillkürlich an Lucas denken. Es war schon absurd, aber seine Telefonnummer war das Einzige, das ihr noch etwas bedeutete, die einzige Verbindung zu der Welt, die sie inzwischen bewohnte. Aber was sollte sie ihm schon sagen? Ihn würde es vermutlich nicht mal interessieren, ob sie überhaupt noch lebte.
Doch das war nicht der Grund, warum sie ihn nicht anrief. Lucas war ihr Notnagel, die letzte Zuflucht – und so schlimm die Lage bereits war: Sie wollte ihn lieber als ihre Reserve aufbewahren, sollte alles noch schlimmer kommen. Lucas wusste es nicht, aber er war derjenige, dem sie mehr vertraute als jedem anderen Menschen.
NEUN
Das konnte sie nicht sein. Das Mädchen hatte dunkle Haare. Aber sie schien in Richtung des Hauses zu gehen. Und tatsächlich: Sie blieb vor der Tür stehen und klingelte. Vielleicht war es ja eine ihrer Freundinnen, ein hübsches Mädchen jedenfalls.
Er zoomte mit seinem Objektiv auf die Tür, aber der Winkel war nicht ideal: Derjenige, der dem Mädchen die Tür öffnete, war nicht in seinem Blickfeld. Er war enttäuscht, dass er von hier aus keinen Blick ins Haus und auf seine Bewohner werfen konnte, auf Madeleine und ihre gemeinsame Tochter, ihren neuen Ehemann vielleicht, weitere Kinder.
Er konnte sich nicht vorstellen, dass Madeleines Eltern noch immer dort wohnten. Wahrscheinlich hatten sie Platz für sie gemacht und waren aufs Land gezogen. Die Erinnerung an ihre Eltern, die er immer gemocht hatte, machte ihn nostalgisch – und im Windschatten dieser Erinnerung machten sich prompt auch weitere Gedanken an Madeleine in seinem Bewusstsein breit.
Er wollte sie einfach wiedersehen – nicht in der Hoffnung, die Vergangenheit noch einmal aufleben lassen zu können, sondern nur um ihr zu sagen, dass er sich tatsächlich geändert hatte, sich zumindest aus seinem früheren Metier zurückgezogen habe. Aber vielleicht interessierte sie das ja auch gar nicht – schließlich war es ihr gutes Recht, sich nicht darum zu
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