Das Fluestern des Todes
sagen, dass die Zeit gekommen sei, Lucas zu kontaktieren. Sie sah ihren Vater vor sich, hörte den Tonfall, in dem er über die fundamentalen Wahrheiten des Lebens dozierte: Verlange immer nur das Beste, schlage aus allem so viel heraus wie möglich, pass auf, dass dir in einer Bar niemand was in deinen Drink schüttet, leg dein Geld in Immobilien an, vertraue Lucas und nie der Polizei.
Sie wollte Simon nicht hintergehen, sie wollte der Polizei auch nicht die Handhabe geben, das Geschäft ihres Vaters zu zerschlagen, schon gar nicht, wenn am Ende – sollten sie die Mörder doch noch fassen – nur ein lauwarmes Urteil stünde. Würde Lucas sie in die Finger bekommen, würde er keine Sekunde lang zögern, sie der gerechten Strafe zuzuführen.
Sie nahm Das Nibelungenlied aus dem Regal. Das Lesezeichen befand sich noch immer auf der Seite, die sie gelesen hatte, als Lucas ihr die schlimme Nachricht überbracht hatte. Vor ihrer Begegnung hatte sie nie eine Waffe gesehen, nie einen Mord, nicht einmal einen Toten. Seine Welt war ihr völlig fremd. Würde sie nun wirklich auf sein Angebot zurückkommen, bedeutete das unweigerlich, dass sie auch Teil dieser Welt wurde. Aber diesen Preis war sie bereit zu bezahlen, wenn sie dafür dieses eine Problem aus der Welt schaffen konnte.
Sie blätterte zu der Seite, auf die er seine Nummer notiert hatte, und griff ohne Zögern zum Telefon. Es dauerte eine Weile, bis die Verbindung hergestellt wurde. Es klingelte lange, doch schließlich wurde der Anruf angenommen. Am anderen Ende der Leitung blieb es still. Da sich kein Anrufbeantworter einschaltete, wurde ihr klar, dass Lucas abgenommen hatte, aber keinen Laut von sich gab.
Wie typisch für ihn. Sie musste lächeln. »Ella Hatto hier.«
»Hast du Ärger?«
»Nein, nein.«
»Gut.« Er schwieg erneut. Sie konnte geradezu spüren, wie er mit Worten rang, ohne die offensichtliche Frage stellen zu müssen: warum sie ihn angerufen hatte. »Wie geht’s dir?«
»Ganz okay. Ich bin wieder auf dem College.«
»Gut.«
»Nein, um ehrlich zu sein: Mir geht’s nicht so gut. Ich dachte, ich könnte wieder ein normales Leben führen, aber es funktioniert einfach nicht – nicht, solange die Mörder nicht gefasst sind. Und danach sieht es momentan überhaupt nicht aus.«
»Warum rufst du an?« Sein Tonfall suggerierte, dass er die Antwort bereits kannte und nur noch ihre Bestätigung hören wollte.
»Ich möchte, dass Sie sie finden. Natürlich werde ich dafür bezahlen.«
»Nein, keine Bezahlung. Ich bin im Ruhestand.«
Und wieder machte er eine seiner berüchtigten Pausen, die übers Telefon noch verwirrender waren. Sie wartete, bis er fortfuhr, doch er blieb stumm.«Aber Sie würden mir helfen, sie zu finden? Ich dachte, Sie könnten vielleicht …«
Er unterbrach sie.«Kein Wort mehr. Wo bist du gerade?«
»In der Radstone Hall, direkt auf dem Campus, Zimmer D76.«
»Ich komme, so schnell ich kann.« Wieder eine Pause. Dann noch: »Ich bin froh, dass du angerufen hast. Bis dann.«
»Bis dann.«
Als sie den Hörer auflegte, lächelte sie still in sich hinein. Wie um alles in der Welt konnte es angehen, dass sie sich nach dem Gespräch mit Lucas ruhiger und gelassener fühlte als in all den Monaten zuvor? Als sie in seiner Nähe gewesen war, schien er alle ihre Probleme zu verkörpern, doch seinen Schattenseiten zum Trotz: Er war es gewesen, der sie gerettet hatte, er war es, der immer mit offenen Karten gespielt hatte – und nun würde er auch die Waffe sein, mit der sie ihre Familie rächte.
TEIL 3
ELF
Viel konnte er vom Taxi aus nicht erkennen, doch er bekam zumindest einen ersten Eindruck von der Größe des Campus. Moderne Gebäude, die im strömenden Regen ineinander verschwammen. Und doch verspürte er so etwas wie Nervosität: Er hatte noch nie eine Universität betreten, und wenn es etwas in seinem Leben gab, das er bedauerte, war es die Tatsache, dass er nie die Möglichkeit gehabt hatte, selbst eine Uni zu besuchen.
Er lief die zwanzig Meter vom Taxi zum Torbogen der Radstone Hall – ein Gebäudekomplex um einen mehr oder minder quadratischen Innenhof mit Blumenbeeten und Sitzbänken, die nun verwaist und nass im Regen glänzten. Er warf einen Blick auf den Lageplan der Gebäude, der sich im Toreingang befand.
Eines der beiden Mädchen, die gerade an ihm vorbeigingen, blieb stehen. »Kann ich Ihnen helfen?«
Er lächelte. »Danke. Ich suche D76.«
»Die Treppe dort, dritter Stock.«
Er bedankte sich,
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