Das Fluestern des Todes
mit der sie sich zumindest im ersten Studienjahr gut verstanden hatte, begrüßte sie mit einem freundlichen Hallo. Al kannte sie kaum, wusste aber, dass er ein Idiot war, der in der letzten Woche geschmacklose Witze über die Dinge gemacht hatte, die über ihre Familie in der Zeitung standen.
»Ella, warst du in meinem Zimmer?«, fragte er, als sie den Schrank wieder zumachte. Sie schaute ihn an und wartete auf die Pointe. »Ich glaube, du hast einen Pferdekopf in meinem Bett vergessen.«
»Al, das war ja fast schon lustig.«
Er wandte sich Scarlett zu: »Sie hat sogar gelächelt –für heute sind wir sicher.«
Scarlett war peinlich berührt und gab ihm ein Zeichen zu schweigen.
Al Brown mochte vielleicht ein Arschloch sein, aber zumindest machte er aus seinem Herzen keine Mördergrube. Scarlett und all die anderen, die ihr gegenüber mehr oder minder rücksichtsvoll waren, hinter ihrem Rücken aber über sie tuschelten, verachtete sie hingegen zutiefst. Ella hatte sie mehrfach auf dem Flur wispern gehört. Manchmal verstummten sie auch plötzlich, wenn sie unerwartet in die Gemeinschaftsküche kam.
In ihrem Zimmer schmierte sie sich ein Brot und dachte darüber nach, wie sie ihr Leben wieder in den Griff bekommen konnte. So viel war klar: Sie musste die Uni verlassen und der Tatsache ins Auge sehen, dass sie nie wieder die gleiche Person wie früher sein würde. Wie sich auch immer ihr Leben entwickeln würde: Den Ballast der letzten drei Monate würde sie nie mehr über Bord werfen können.
Sie musste die Sache in die eigene Hand nehmen. Sie hatte sich eingeredet, dass die Behörden die Mörder früher oder später fassen würden – eine bequeme Ausrede. Die daraus resultierenden Schuldgefühle und ihre Weigerung, die Verantwortung zu übernehmen, waren mit Sicherheit die Ursachen der Wut, die ständig unter der Oberfläche brodelte.
Sie schaute auf die Uhr. Es war kurz vor halb sechs. Sie kramte in der Schublade nach einer Visitenkarte und wählte die Nummer. Am anderen Ende wurde so schnell abgehoben, dass sie für einen Moment perplex war, weil sie ihre Frage noch gar nicht richtig durchdacht hatte.
»Hi Vicky, Ella Hatto hier. Sie sagten, ich könne Sie jederzeit anrufen.« Am anderen Ende der Leitung war es still. Sie hatte in der Zwischenzeit sicher hundert andere Fälle zu bearbeiten gehabt und brauchte vermutlich eine Weile, um Ella einordnen zu können.
Als sie dann aber sprach, sprach sie mit einer Dringlichkeit, als befürchte sie, Ella könne gleich wieder auflegen. »Ella, wie geht es Ihnen? Was kann ich für Sie tun?«
»Ich wollte mich eigentlich nur erkundigen, wie der Stand der Ermittlungen ist.«
»Nun ja, wir verfolgen noch immer einige Hinweise, aber um ehrlich zu sein: Etwas Konkretes haben wir noch nicht.« Sie machte eine Pause, bevor sie vorsichtig fortfuhr. »Wobei Sie uns auch nicht gerade eine große Hilfe sind, Ella.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie wissen genau, was ich meine. Die Spur zu den Mördern Ihrer Familie muss sich irgendwo in den geschäftlichen Aktivitäten Ihres Vaters verstecken. Natürlich ist mir bekannt, dass einige seiner Aktivitäten in der Vergangenheit etwas … unkonventionell waren, aber ich kann Ihnen nur ein weiteres Mal versichern, dass uns dieser Aspekt in keiner Weise interessiert. Wir möchten den Namen Ihres Vaters nicht in den Schmutz ziehen, sondern nur Anhaltspunkte finden, die uns zum Mörder führen.«
»Ich kann nicht.« Sie wollte Simon nicht hintergehen und hatte Vickys Welshs Zusicherungen zum Trotz noch immer die Befürchtung, dass der Name ihres Vaters in den Schmutz gezogen würde – und diesmal nicht auf Basis von Gerüchten, sondern von harten Fakten.
»Würden Sie den Tatbestand denn zumindest noch einmal mit Ihrem Onkel diskutieren? Vielleicht könnten Sie ihn fragen, warum er so hartnäckig jede Zusammenarbeit verweigert?«
»Sie verstehen nicht, ich …«
»Sie müssen sich nicht sofort entscheiden. Denken Sie erst einmal in Ruhe darüber nach. Vielleicht sollten wir uns danach noch einmal unterhalten.«
»Okay.«
»Wir sind auf Ihrer Seite.«
»Ich weiß. Vielen Dank.«
Sie legte auf und ließ das kurze, unbefriedigende Gespräch in ihrem Kopf Revue passieren. Sie selbst war es also, die die Suche nach den Killern behinderte. Sie war sich sicher: Wenn ihr Vater jetzt hier wäre, würde er ihr raten, nicht auf diesen Trick hereinzufallen, sondern weiterhin auf Simons Rat zu hören.
Vielleicht würde er ihr auch
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