Das Fluestern des Todes
sie an den derzeitigen Stand ihrer Beziehung zu erinnern.
»Wie nobel von dir. Was willst du hier, Luke?«
»Schön, dich wiederzusehen, Madeleine.« Das Kind rief nach ihr, und sie drückte instinktiv die Tür zu, bevor sie ihm mit einer angenehmen, verständnisvollen Stimme antwortete. Die Art, wie sie die Tür zugezogen hatte, signalisierte offenkundig, dass sie ihn selbst von dem Kind fernhalten wollte, auf das er gar keinen Anspruch hatte.
Sie drehte sich wieder zu ihm um: »Was machst du hier?«
Er hatte wohl keine andere Wahl, als mit der Wahrheit herauszurücken.«Ich möchte sie sehen. Ich weiß, dass ich ein Versprechen abgelegt habe, aber ich möchte sie sehen, mit ihr sprechen. Vielleicht will sie mich ja auch kennenlernen und erfahren, wer ich bin.«
»Wir hatten eine klare Absprache. Du warst mit mir einer Meinung, dass sie mit dem Wissen über deine Person und deine Tätigkeit nicht belastet werden sollte. Und jetzt, aus einer egoistischen Laune heraus, möchtest du sie mit all dem konfrontieren?«
»Egoistisch vielleicht, aber eine Laune ist es nicht. Ich habe mein Leben geändert, Madeleine. Nicht früh genug, das gebe ich zu, aber ich habe es geändert.«
Ihr Tonfall war sanfter, aber noch immer bestimmt. »Wir haben uns auch verändert, Luke. Wir sind eine Familie, glücklich und zufrieden. Jetzt ist nicht der geeignete Zeitpunkt. Ich bitte dich, geh – tu es nicht für mich, sondern für Isabelle.«
»Isabelle?« Er verschluckte sich an dem Wort, als wäre sein Hals blitzartig zugeschnürt worden. Er konnte nicht glauben, allein durch den Klang ihres Namens von seinen Gefühlen so überwältigt zu werden, konnte nicht glauben, diese drei Silben, die ein perfektes Gedicht formten, nun selbst ausgesprochen zu haben.
Madeleine schien davon nichts mitzubekommen. »Ja, sie heißt Isabelle. Sie ist glücklich und interessiert sich nicht für dich. Davon abgesehen spricht sie kein Englisch, nur Bitte und Danke und Hallo. Ich vermute, dass du selbst noch immer kein Französisch sprichst?« Er schüttelte den Kopf und glaubte in ihrer Stimme einen boshaften Unterton herauszuhören. Er stellte sich vor, wie sie Isabelle bewusst vom Englischlernen abgehalten hatte – wohl wissend, dass die Sprachbarriere einen weiteren Keil zwischen sie treiben würde. »Also, dann erklär mir, welchen positiven Effekt ein Treffen haben sollte – positiv für Isabelle?«
Sie hatte ja recht. Das Mädchen war augenscheinlich glücklich, und wie konnte er ernsthaft behaupten, dass dies mehr als eine flüchtige Laune gewesen war, wenn er in vierzehn Jahren nie auf die Idee gekommen war, ihre Muttersprache zu lernen. Warum hatte er nie daran gedacht? Er wusste nicht, was er Madeleine antworten sollte, sondern nickte nur niedergeschlagen mit dem Kopf.
»Bitte komm nicht wieder, Luke, bitte versprich es mir.« Doch das wollte er nicht. Er wollte, dass Madeleine ihn ins Haus ließ und ihm von ihrem Leben erzählte, wollte sie wieder in den Arm nehmen, ihr das rote Kleid abstreifen und ihre nackte Haut spüren. Sagte man nicht, es war nie zu spät?
»Ich werde heute Nachmittag abreisen.« Er drehte sich um.
»Versprich es mir«, rief sie ihm hinterher.
Er antwortete nicht, sondern ging zu seinem Wagen. Als er dort ankam und sich noch einmal umdrehte, war die Tür bereits geschlossen.
Was war ein Versprechen noch wert? Er verstand Gott und die Welt nicht mehr. Warum? Wenn der Weg zurück für ihn auf immer versperrt war – warum dann überhaupt noch dieses Theater?
ZEHN
Sie hatte den ganzen deprimierenden Sommer über diesem Moment entgegengefiebert, um nicht den Verstand zu verlieren. Doch kaum war sie eine Woche auf dem College, kam sie zu der ernüchternden Erkenntnis, dass es noch immer zu früh war. Sie hatte geglaubt, in die reale Welt zurückkehren zu können, doch tatsächlich erschöpfte sie sich im ständigen Vergleich zwischen ihrem heutigen Ich und der Person, die sie noch vor drei Monaten war.
Es war fünf Uhr nachmittags, und sie hatte gerade eine Vorlesung über die Dichter der Romantik besucht. Die feuchte Dämmerung hatte sich bereits über den Campus gelegt, als sie sich unter die Menge der Studenten mischte, die entweder zu einer letzten Vorlesung oder aber zurück in ihre Wohnquartiere gingen. Sie fiel in der Menge nicht weiter auf, hatte aber das Gefühl, ein Virus in sich zu tragen, das ihre Umwelt bislang nur noch nicht wahrgenommen hatte.
Und irgendetwas hatte sich tatsächlich in ihrem
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