Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Fluestern des Todes

Das Fluestern des Todes

Titel: Das Fluestern des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Wignall
Vom Netzwerk:
aufgewachsen war, eine Geschichte hatte.
    Zum ersten Mal verspürte sie den Wunsch, ihn wirklich kennenzulernen, ihn über seine Vergangenheit auszufragen. Und gleichzeitig bedrückte sie dieser Wunsch, weil sie nun einmal einen Weg eingeschlagen hatte, den Lucas nicht mehr beschreiten wollte.
    In der Vergangenheit hatte Lucas beim Töten keine Gewissensbisse gekannt, aber er hatte sich verändert. Er hatte Novakovic nicht umbringen und auch Brodsky ungeschoren davonkommen lassen wollen. Sie verstand inzwischen, dass er sich von seiner Vergangenheit lösen wollte – und dass sie es war, die ihn dorthin zurückzog. Aber sie hatte nun mal keine andere Wahl: Es waren andere, die sie auf diesen Weg gezwungen hatten – auch der Mann, der vor ihr saß –, und sie würde keine Ruhe geben, bis alle dafür bezahlt hatten.
    Sie hatte keinen Zweifel, dass Brodsky ein unterhaltsamer Gesprächspartner war, dass er ihr auch über Lucas noch interessante Geschichten erzählen konnte. Und ja: Er hatte ihnen mit seiner Information sicherlich weitergeholfen. Vielleicht war er ja sogar ein guter Mensch, aber das waren die drei Personen, deren Tod er organisiert hatte, auch gewesen. Sie war hierhergekommen, um ihn zu töten –, und sie empfand es als Verrat an ihrer Familie, wenn sie dieses Vorhaben nicht zu einem Ende brachte.
    »Dann haben Sie also unter dem kommunistischen Regime hier gelebt?«
    »Ich hab mein ganzes Leben mit den Kommunisten verbracht. Ich war selber einer.«
    »Erzählen Sie mir davon.«
    »Was wollen Sie denn wissen?«
    Sie stellte genau die richtigen Fragen, um ihn bei Laune zu halten. Er trank weiter, während sie krampfhaft darüber nachdachte, wie sie es anstellen sollte. Die Pistole wäre die simpelste Methode gewesen, aber das hatte Lucas ja zu verhindern gewusst. Sie würde es kaum schaffen, ihn zu erstechen. Vielleicht konnte sie ihn ja mit einem schweren Gegenstand erschlagen.
    Sie musste eigentlich nur warten, bis der Alkohol seine Reflexe außer Gefecht gesetzt hatte. Vorsichtig nippte sie an ihrem eigenen Glas und protestierte auch nicht, als er ihr nachschenkte. Brodsky trank inzwischen in großen Zügen und war schon sichtlich angeschlagen, als er aufstand, um die zweite Flasche zu holen.
    »Sie haben mir noch nicht erzählt, wie Sie nach Budapest gekommen sind«, rief sie ihm hinterher, als er in der Küche die Flasche entkorkte. Doch statt seiner Antwort Beachtung zu schenken, suchte ihr Hirn verzweifelt nach Antworten auf die Frage, welche Option denn nun die sinnvollste war. Je länger sie grübelte, umso weniger schien sie sich festlegen zu können. Es war schließlich ein Mord, um den es hier ging, das gewaltsame Ende eines menschlichen Lebens.
    Brodskys Bewegungen wurden zunehmend langsamer. Er nickte ein, bevor er die zweite Flasche geleert hatte. Da war also ihre große Chance, auf einem Silbertablett präsentiert – und doch wusste sie noch immer nicht, wie sie es anstellen sollte. Sie ging zum offenen Fenster und wollte der Verwirrung und der Verantwortung entkommen, indem sie für einen Moment auf die leere Straße starrte.
    Sie hatte bereits einige Minuten dort gestanden, als sie jemanden rufen hörte. Es war nur eine einzige Silbe, die fast im Rauschen der Bäume untergegangen wäre. Sie brauchte eine Weile, um zu erkennen, woher das Geräusch gekommen war, sah dann aber einen Jungen, der auf der anderen Straßenseite stand.
    Bei seinem Anblick verspürte sie eine plötzliche Wiedersehensfreude, die sich aber umgehend wieder verflüchtigte. Nein, es war nicht Ben – das war unmöglich. Aber er sah ihm erstaunlich ähnlich, sogar seine Kleidung – und war so weit entfernt, dass sie in ihrer Fantasie die störenden Details nur allzu bereitwillig ausgeblendet hatte.
    Langsam hob er den Arm und winkte ihr zu. Die Ähnlichkeit mit Ben, aber auch die Gewissheit, dass sie gesehen worden war, ließen sie erschaudern. Sie hob ihren Arm und wollte zurückwinken, hörte dann aber eine andere Stimme und ließ ihn wieder sinken.
    Sie war peinlich berührt, als sie bemerkte, dass ihm jemand von einer benachbarten Wohnung aus zuwinkte. Es war ein anderer Teenager, der seinem Freund auf der Straße etwas zurief und dann wieder verschwand. Der Junge auf der Straße hatte sie nicht gesehen, niemand hatte sie gesehen – und Ben war tot. Brodsky musste sterben.
    Sie hatte aber einige Mühe, die Fenster angesichts des auffrischenden Windes zu schließen. Ohne Brodsky noch eines Blickes zu würdigen,

Weitere Kostenlose Bücher