Das Fluestern des Todes
ihr angeboten hatte.
»Warum habe ich dann nicht auch das Recht, Sie umzubringen?«
»Weil es sinnlos wäre.« Er nippte an seinem Wein. »Ich kann durchaus nachvollziehen, warum Sie Novakovic tot sehen wollten – ja, Lucas hat mir auch davon erzählt –: Er hatte nun mal die Hand am Abzug. Sie wollten ihn sterben sehen, auch wenn er ein Profi war und tat, was Profis tun: Selbst als er Ihre Familie vor sich sah, ließ er sich nicht von seinem Vorsatz abbringen. Ich kann auch verstehen, warum Sie den Auftraggeber tot sehen möchten – es ist nur gerecht. Ich aber bin nur der Mittelsmann. Mein Verbrechen besteht darin, eine Person, die jemanden töten will, mit einer anderen Person zusammenzubringen, die diesen Auftrag auch durchführen kann. Ich hatte nichts gegen Ihre Familie – ich habe gar nicht über sie nachgedacht.«
»Ich weiß nicht, ob Sie mich damit überzeugen können.«
Er lächelte. »Auf Deutsch könnte ich wahrscheinlich besser argumentieren.«
»Sie sind Deutscher? Ich dachte, Sie wären Ungar.« Sie ärgerte sich, dass sie überhaupt die Frage gestellt hatte. Sie wollte keine Einzelheiten wissen, auch wenn sie neugierig war.
»Nein, ich komme aus der Nähe von Dresden. Meine Frau war Ungarin.«
»Lucas erzählte, dass sie jung gestorben sei.«
»Sie ist nicht gestorben, sie wurde ermordet. Im Sommer 1977. In diesem Sommer wurden drei Frauen vergewaltigt und erwürgt. Sie war die zweite. Der Mörder wurde nie gefasst, und am Ende des Sommers hörten die Überfälle auf.« Er nahm einen größeren Schluck Wein. »Deshalb kann ich sie gut verstehen. In diesem Sommer hätte ich auch am liebsten alle umgebracht: die Polizisten, weil sie nichts unternahmen, ahnungslose Passanten, weil sie so unbeschwert und glücklich waren, eigentlich alle – weil ich eben nicht das bekam, was ich vor allem wollte: den Tod des Mörders.«
»Das tut mir leid.« Sie trank ebenfalls einen Schluck. Genau das hatte sie vermeiden wollen – ihn als einen Menschen kennenzulernen, der seine eigenen Probleme hatte.
»Aber Sie haben noch nicht begriffen, wie viel Glück sie haben: Anders als ich werden Sie Ihren Mörder finden. Sie können die Dinge wieder ins Lot bringen, weil Lucas ihn für sie aufstöbern wird.«
Sie fühlte sich peinlich berührt, als der Name Lucas in diesem Zusammenhang fiel. Er war der einzige Mensch, auf den sie sich wirklich verlassen konnte – und er hatte ihr bereits zweimal geholfen. Aber sie befürchtete, dass er sie nun – nachdem sie ihn angelogen hatte und mit einer Waffe bei Brodsky erschienen war – mit anderen Augen sehen würde. Andererseits war sie in seiner Achtung ja vielleicht sogar gestiegen: In seiner seltsamen Welt galt arglistige Täuschung womöglich als eine Tugend.
»Kennen Sie Lucas schon lange?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich vermute, so lange wie alle anderen auch. Fast lange genug, um sein Freund zu sein.«
»Erzählen Sie mir von ihm.« Er trank den letzten Schluck und füllte sein Glas wieder auf.
»Was kann ich Ihnen über Lucas erzählen? Zunächst einmal: Lassen Sie sich nicht von seinem Akzent aufs Glatteis führen. Er ist kein Engländer, sondern Rhodesier.«
»Ein was?«
»Rhodesier«, sagte er, überrascht von ihrer Unkenntnis. »Rhodesien, das heutige Zimbabwe. Vor 1980 hieß es Rhodesien. Und von daher kommt er. Alles, was ich über seine Jahre dort weiß, ist die Tatsache, dass er nicht darüber spricht. Außerdem behauptet er, keine anderen Sprachen zu sprechen, was aber nicht stimmt. Er spricht eine Eingeborenen-Sprache« – er schnalzte mit der Zunge –, »sogar diverse Dialekte. Wenn er angetrunken war, redete er zum Spaß in dieser Sprache. Etwas Afrikaans kann er auch. Und schließlich zog er sogar nach Südafrika. Er war noch jung, als er Rhodesien verließ, vor der Unabhängigkeitsbewegung, er ging nach Südafrika, Namibia, Angola. Ich glaube, er war erst dreiundzwanzig, als er zum ersten Mal nach Europa kam, hatte aber damals schon einen ausgezeichneten Ruf. Ich habe jedenfalls gern mit ihm gearbeitet. Er war gut. Tötete jeden. Er hätte auch Ihren Bruder umgebracht, auch Sie .«
Sie konnte die Informationen, die auf sie einprasselten, gar nicht auf einmal verarbeiten. Lucas war ihr immer ein Rätsel gewesen, eine Karikatur, die sich nur durch ihre soziale Unbeholfenheit und ihre Schrullen definierte. Und nun hörte sie von Brodsky, dass er ein sehr reales und komplexes Leben geführt hatte, dass er in einem anderen Land
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