Das Foucaultsche Pendel
uns klar, daß er, vielleicht in visionärer Weise, auf eine verborgene Lenkung der Geschichte anspielte. Sagt man nicht, die Geschichte sei ein blutiges, sinnloses Rätsel? Unmöglich, es muß einen Plan in ihr geben. Es muß eine Vernunft in ihr walten, ein Geist. Deshalb haben verständige Männer im Laufe der Jahrhunderte an Herren der Welt oder an einen König der Welt gedacht, vielleicht nicht an eine Person im physischen Sinne, eher an eine Rolle, eine kollektive Rolle, an die von Mal zu Mal stets nur provisorische Inkarnation eines Stabilen Willens. Etwas, womit gewiß die großen verschwundenen Priester- und Ritterorden in Kontakt waren.«
»Glauben Sie daran?« fragte Belbo.
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»Besonnenere Leute als er suchen nach den Unbekannten Oberen.«
»Und finden sie?«
Agliè lachte still vor sich hin. »Was wären das für Unbekannte Obere, wenn sie sich jedem Hergelaufenen zu erkennen gäben? Meine Herren, wir müssen arbeiten. Ich habe noch ein Manuskript, und wie’s der Zufall will, ist es genau eine Abhandlung über Geheimgesellschaften.«
»Brauchbar?«
»Wo denken Sie hin? Aber für Manuzio könnte es gehen.«
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Da sie die irdischen Geschicke nicht unverhüllt lenken kann, weil die Regierungen sich widersetzen würden, kann diese mysteriöse Vereinigung
nur vermittels Geheimgesellschaften agieren...
Diese Geheimgesellschaften, die je nach Bedarf
geschaffen wurden, zerfallen in verschiedene
und scheinbar entgegengesetzte Gruppen, die
von Mal zu Mal die unterschiedlichsten Meinun-
gen vertreten, um getrennt und mit Vertrauen
zueinander sämtliche religiösen, politischen,
ökonomischen und literarischen Parteien zu len-
ken, und sie verbinden sich, um eine gemeinsa-
me Richtung daraus zu empfangen, mit einem
unbekannten Zentrum, in dem die mächtige
Triebfeder verborgen ist, welche auf diese Weise unsichtbar alle Szepter der Erde zu bewegen
trachtet.
J. M. Hoene-Wronski, zit. in P. Sédir, Histoire et doctrine des Rose-Croix, Rouen 1932
Eines Tages sah ich Signor Salon in der Tür seines Laboratoriums stehen. Er stand im Halbdunkel, und ich erwartete schon, daß er gleich den Ruf eines Käuzchens ausstoßen würde. Er begrüßte mich wie einen alten Freund und fragte, wie es mir »dort unten« ergangen sei. Ich machte eine vage Geste und ging lächelnd vorbei.
Unwillkürlich fiel mir dabei Agarttha ein. Wie Agliè uns die Ideen von Saint-Yves geschildert hatte, mußten sie einem Diaboliker faszinierend vorkommen, aber nicht beunruhigend. Dennoch hatte ich neulich in München eine gewisse Unruhe in Salons Worten und Blicken gespürt.
So beschloß ich, als ich aus dem Haus trat, einen Sprung in die Bibliothek zu machen und nach der Mission de l‘Inde en Europe zu suchen.
Im Katalogsaal und am Bestellschalter war das übliche Ge-dränge. Mit Ellbogenstößen gelang es mir endlich, den ge-373
suchten Karteikasten in die Hand zu bekommen, ich fand den Titel, füllte den Leihschein aus und gab ihn dem Angestellten am Schalter. Er teilte mir mit, der Band sei ausgelie-hen, und wie es in Bibliotheken vorkommt, schien er sich darüber zu freuen. Doch im selben Moment ertönte hinter mir eine Stimme: »Sehen Sie nach, er muß da sein, ich habe ihn gerade zurückgegeben.« Ich drehte mich um. Es war der Kommissar De Angelis.
Ich erkannte ihn, und er erkannte mich — zu schnell, wie mir schien. Ich hatte ihn unter für mich außergewöhnlichen Umständen kennengelernt, er mich bei einer Routineunter-suchung. Außerdem trug ich damals ein Bärtchen und die Haare länger. Was für ein Auge!
Hatte er mich womöglich seit meiner Rückkehr überwacht? Oder war er bloß ein guter Physiognomiker? Polizisten müssen den Spürsinn kultivieren, sich Gesichter und Namen gut merken können...
»Sieh da, der Signor Casaubon! Und wir lesen dieselben Bücher!«
Ich reichte ihm die Hand. »Jetzt bin ich Doktor, schon seit einer Weile. Vielleicht bewerbe ich mich bei der Polizei, um nichts zu versäumen, wie Sie’s mir damals geraten haben.
Dann krieg ich die Bücher zuerst.«
»Man braucht bloß als erster zu kommen«, sagte er. »Aber jetzt ist das Buch wieder da, Sie können sich’s später holen.
Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?«
Die Einladung verwirrte mich, aber ich konnte sie nicht ablehnen. Wir setzten uns in ein nahes Café. Er fragte, wieso ich mich für die Mission Indiens interessierte, und ich war versucht, sofort zurückzufragen, wieso er sich dafür interessierte, aber
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