Das Foucaultsche Pendel
beurteilte sie präzise, streng und mit Nachsicht. Agliè war scharfsinnig, es hatte ihn nicht viel gekostet, das Doppelspiel Garamond-Manuzio zu durchschauen, und wir hatten ihm die Wahrheit nicht länger verschwiegen. Er schien zu verstehen und zu verzeihen. Er vernichtete einen Text mit wenigen schneidenden Sätzen, dann fügte er mit sanftem Zynismus hinzu, für Manuzio sei er gerade recht.
Ich fragte ihn, was er uns über Agarttha und Saint-Yves d’Alveydre sagen konnte.
»Saint-Yves d’Alveydre...«, begann er. »Ein bizarrer Gesel-369
le, ohne Zweifel, seit früher Jugend frequentierte er die An-hänger von Fabre d’Olivet. Er war nur ein Angestellter im Innenministerium, aber ambitioniert... Freilich fand seine Ehe mit Marie-Victoire nicht unseren Beifall...«
Agliè hatte nicht widerstanden. Er war zur ersten Person übergegangen. Er rief sich Erinnerungen ins Gedächtnis.
»Wer war Marie-Victoire? Ich liebe Klatschgeschichten«, sagte Belbo.
»Marie-Victoire de Risnitch, eine strahlende Schönheit, als sie noch Busenfreundin der Kaiserin Eugenie war. Aber als sie Saint-Yves begegnete, hatte sie die Fünfzig bereits über-schritten. Er war in den Dreißigern. Eine Mesalliance für sie, das ist nur natürlich. Aber damit nicht genug, um ihm einen Titel zu verschaffen, kaufte sie ihm auch Ländereien von einem gewissen Marquis d’Alveydre, und so konnte sich unser Bruder Leichtfuß nun mit diesem Titel schmücken, und in Paris sang man Couplets über den ›Gigolo‹. Da er jetzt von der Rendite leben konnte, überließ er sich seinen Träumen. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, eine politische Formel zu finden, die imstande wäre, eine harmonischere Gesellschaft herbeizuführen. Synarchie als das Gegenteil von Anarchie. Eine gesamteuropäische Gesellschaft, regiert von drei Räten als Repräsentanten der ökonomischen Macht, der Justiz und der geistigen Mächte, das heißt der Kirchen und der Wissenschaften. Eine aufgeklärte Oligarchie, die mit den Klassenkämpfen Schluß machen sollte. Wir haben schon Schlimmeres gehört.«
»Und Agarttha?«
»Er sagte, eines Tages sei er von einem mysteriösen Afgha-nen besucht worden, einem gewissen Hadji Scharipf, der kein Afghane gewesen sein konnte, da der Name ganz klar albanisch ist... Und dieser Mann habe ihm das Geheimnis der Residenz des Königs der Welt verraten, wenn auch Saint-Yves diesen Ausdruck nie benutzt hat, das haben dann die anderen getan: Agarttha, das Unauffindbare.«
»Aber wo hat er denn diese Dinge gesagt?«
»In Mission de l’Inde en Europe, einem Werk, das große Teile des zeitgenössischen politischen Denkens beeinflußt hat. In Agarttha gibt es unterirdische Städte, unter deren Boden und weiter hinunter in Richtung des Erdmittelpunktes gibt es fünftausend Pandits, die sie regieren — selbstverständlich 370
erinnert die Zahl fünftausend an die hermetischen Wurzeln der vedischen Sprache, wie Sie zweifellos wissen. Und jede Wurzel ist ein magisches Hierogramm, verbunden mit einer himmlischen Macht und mit der Sanktion einer höllischen Macht. Die zentrale Kuppel von Agarttha wird von oben erleuchtet durch besondere Spiegel, die das Licht nur durch die enharmonische Farbskala eintreten lassen, von welcher das Sonnenspektrum unserer Physiklehrbücher nur die dia-tonische Skala darstellt. Die Weisen von Agarttha studieren alle heiligen Sprachen, um zur Universalsprache zu gelangen, dem Vattan. Wenn sie allzu tiefe Geheimnisse angehen, erheben sie sich von der Erde und schweben nach oben und würden sich den Schädel an der Kuppelwölbung einschlagen, wenn ihre Brüder sie nicht zurückhielten. Sie präparieren die Blitze, lenken die zyklischen Ströme der interpolaren und intertropikalen Flüsse, die interferentiellen Derivatio-nen in den diversen Längen- und Breitenzonen der Erde. Sie selektionieren die Arten und Gattungen, sie haben kleine Tiere geschaffen, die jedoch außergewöhnliche psychische Tugenden besitzen, Tiere mit einem Schildkrötenpanzer und einem gelben Kreuz auf dem Rücken und einem Auge und einem Mund an jeder Extremität, vielfüßige Tiere, die sich in jeder Richtung bewegen können. Nach Agarttha haben sich vermutlich die Templer zurückgezogen, als sie aufgelöst worden sind, und dort erfüllen sie nun Überwachungsauf-gaben. Noch was?«
»Aber... meinte er das im Ernst«? fragte ich.
»Ich glaube, er nahm die Geschichte wörtlich. Zu Anfang hielten wir ihn für einen exaltierten Schwärmer, dann wurde
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