Das Foucaultsche Pendel
andernfalls nur ein banales Wasserspiel wäre. De Caus wußte, daß, wenn man ein Gefäß mit Wasser füllt und es oben verschließt, das Wasser auch dann nicht herauskommt, wenn man unten ein Loch bohrt. Doch bohrt man dann oben ein zweites Loch, so fließt oder schießt das Wasser unten heraus.«
»Ist das nicht selbstverständlich?« fragte ich. »Im zweiten Fall kommt die Luft oben rein und drückt das Wasser nach unten.«
»Eine typisch szientistische Erklärung, bei der die Ursache mit der Wirkung verwechselt wird oder umgekehrt. Sie müssen sich nicht fragen, warum das Wasser im zweiten Fall austritt. Sie müssen sich fragen, warum es im ersten nicht 404
austreten will.«
»Und warum will es nicht?« fragte Garamond.
»Weil, wenn es austräte, im Gefäß ein Vakuum bliebe, und die Natur verabscheut das Vakuum. Nequaquam vacui lautete ein Prinzip der Rosenkreuzer, das die moderne Wissenschaft vergessen hat.«
»Eindrucksvoll«, sagte Garamond. »Casaubon, in unserer wunderbaren Geschichte der Metalle müssen diese Dinge herauskommen, denken Sie dran. Und sagen Sie mir nicht, das Wasser sei kein Metall. Phantasie ist gefragt«
»Entschuldigen Sie«, sagte Belbo zu Agliè, »aber Sie argumentieren nach dem Muster post hoc ergo ante hoc. Das, was nachher kommt, verursacht das, was vorher kam.«
»Man darf nicht in linearen Abfolgen denken. Das Wasser dieses Brunnens tut es nicht. Die Natur tut es nicht, die Natur ignoriert die Zeit. Die Zeit ist eine Erfindung des Okzidents.«
Während wir aufstiegen, begegneten wir auch anderen Gä-
sten. Angesichts einiger von ihnen gab Belbo Diotallevi leichte Rippenstöße, und Diotallevi kommentierte halblaut:
»Ja ja, facies hermetica.«
Genau unter diesen Pilgern mit facies hermetica, ein wenig abseits, auf den Lippen ein bitternachsichtiges Lächeln, erblickte ich den Signor Salon. Er lächelte mir zu, ich lächelte ihm zu.
»Sie kennen Salon?« fragte mich Agliè.
»Sie kennen Salon?« fragte ich ihn. »Für mich ist es normal, wir wohnen im selben Haus. Was halten Sie von ihm?«
»Ich kenne ihn kaum. Einige vertrauenswürdige Freunde sagen, er sei ein Polizeispitzel.«
Sieh an, also deshalb wußte Salon von Garamond und von Ardenti. In welcher Beziehung mochte er zu De Angelis stehen? Ich begnügte mich jedoch mit der Frage: »Und was macht ein Polizeispitzel auf einem Fest wie diesem?«
»Polizeispitzel gehen überallhin«, sagte Agliè. »Jede Erfahrung ist für sie nützlich, um vertrauliche Nachrichten zu erfinden. Bei der Polizei wird man um so mächtiger, je mehr man weiß oder zu wissen vorgibt. Und dabei ist es ganz unerheblich, ob die Nachrichten stimmen. Wichtig ist nur, vergessen Sie das nie, ein Geheimnis zu haben.«
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»Aber warum wird Salon hierher eingeladen?«
»Mein Freund«, antwortete mir Agliè, »vermutlich weil unser Gastgeber jene goldene Regel des esoterischen Denkens befolgt, nach der jeder Irrtum der verkannte Träger der Wahrheit sein kann. Die wahre Esoterik hat keine Angst vor Gegensätzen.«
»Sie meinen, am Ende sind sich die alle hier untereinander einig?«
»Quod ubique, quod ab omnibus et quod semper *. Die Initiation ist die Entdeckung einer Philosophia perennis.«
So philosophierend gelangten wir schließlich zur obersten Terrasse, wo wir einen Pfad betraten, der uns durch einen weiten Garten zum Eingang des Schlößchens führte. Im Licht einer besonders großen Fackel, die auf einer Säule befestigt war, sahen wir eine junge Frau in einem blauen, mit Sternen besäten Kleid, die eine lange Trompete in der Hand hielt, so eine von der Art, wie sie in Opern von Herolden geblasen werden. Ahnlich wie in jenen Krippenspielen, wo die Engel ein Gefieder aus Kreppapier tragen, hatte die Frau an den Schultern zwei große weiße Flügel, dekoriert mit mandel-
ähnlichen Formen, die einen Punkt in der Mitte trugen, so daß man sie mit ein wenig gutem Willen für Augen halten konnte.
Wir sahen Professor Camestres, einen der ersten Diaboliker, der uns im Verlag besucht hatte, den Gegner des Ordo Templi Orientis. Er war kaum wiederzuerkennen, da er sich in einer Weise verkleidet hatte, die uns einzigartig erschien, aber die Agliè als dem Ereignis durchaus angemessen bezeichnete: Er trug einen weißen Leinenrock, gegürtet mit einem roten, kreuzweise über Brust und Rücken geführten Band, sowie einen barocken Dreispitz, auf den er vier rote Rosen gesteckt hatte. Er kniete vor der jungen Frau mit der Trompete nieder und
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