Das Foucaultsche Pendel
einmal
verlagert hat, weiter periodisch mit einer Kraft verlagert. Mit anderen Worten, wenn der Wind
in Böen auf den Gehenkten bläst, bewegt sich der Gehenkte nach einer Weile nicht mehr, und die
Kugel schwingt, als wäre sie an dem Gehenkten
aufgehängt.
Aus einem privaten Brief von Mario Salvadori, Columbia University, 1984
Ich hatte nichts mehr an diesem Ort zu suchen. Ich nutzte das Durcheinander, um die Statue von Gramme zu erreichen.
Der Sockel war noch offen. Ich schlüpfte hinein, stieg eine kurze Leiter hinunter und befand mich auf einem kleinen Absatz, der von einem Lämpchen beleuchtet wurde. Hier begann eine gemauerte Wendeltreppe, die mich in einen schwach beleuchteten, ziemlich hohen Gang hinunterführte.
Zuerst erkannte ich nicht, wo ich war und woher das Schwappen und Plätschern kam, das ich hörte. Dann ge-wöhnten sich meine Augen an das Dämmerlicht, und mir ging auf: ich war in einem Abwasserkanal, ein Geländer schützte mich vor einem Fall ins Wasser, aber nicht vor einem widerwärtigen Gestank halb chemischer, halb organischer Herkunft. Wenigstens etwas von unserer ganzen Geschichte war also wahr: die Kloaken von Paris. Die von Colbert, von Fantomas, von de Caus?
Ich folgte dem größten Kanal, ließ die dunkleren Abzwei-gungen beiseite und hoffte, daß ein Signal mir anzeigen wür-de, wo ich meine unterirdische Flucht beenden konnte. Auf jeden Fall lief ich weit weg vom Conservatoire, und vergli-chen mit jenem Reich der Finsternis waren die Kloaken von Paris ein Labsal, Befreiung, frische Luft, Licht.
Ich hatte ein einziges Bild vor Augen: die rätselhafte Figur, die Belbos Leichnam in den Chor der Kirche gezeichnet hatte. Was war das für ein Symbol, welchem anderen Symbol entsprach es? Ich kam nicht darauf. Heute weiß ich, daß es sich um ein physikalisches Gesetz handelte, aber die Art, 714
wie ich es erfahren habe, macht das Phänomen nur noch emblematischer. Hier in Belbos Landhaus, zwischen seinen Papieren, habe ich einen Brief gefunden, in dem ihm jemand, den er offenbar danach gefragt hatte, in mathematischen Termini erklärt, wie ein Pendel funktioniert und wie es sich verhalten würde, wenn an seinem Faden weiter oben ein zweites Gewicht befestigt würde. Demnach hatte Belbo, wer weiß, wie lange schon, mit dem Pendel sowohl die Vorstellung eines Sinai wie die eines Golgatha verbunden. Er war nicht als Opfer eines vor kurzem angefertigten Plans gestorben, er hatte seinen Tod seit langem in der Phantasie vorbereitet, ohne zu ahnen, daß diese seine Phantasie, während er sie für unkreativ hielt, die Wirklichkeit vorausplante. Oder nein, vielleicht hatte er auf diese Art sterben wollen, um sich und den anderen zu beweisen, daß, auch wenn man kein Genie hat, die Phantasie immer kreativ ist.
In gewisser Weise hatte Belbo, indem er verlor, gesiegt.
Oder hat, wer sich einzig auf diese Art zu siegen verlegt, alles verloren? Alles verloren hat, wer nicht begriffen hat, daß der Sieg ein anderer gewesen war. Aber das hatte ich in jener Nacht noch nicht endeckt.
Ich lief durch den Gang, amens wie Postel, vielleicht verirrt in derselben Finsternis wie er, und plötzlich kam das Signal.
Eine hellere Lampe an der Mauer zeigte mir eine provisorische Leiter, die zu einer hölzernen Falltür hinaufführte. Ich probierte sie und gelangte in einen Kellerraum voller Kästen mit leeren Flaschen, dann in einen Gang mit zwei Türen, auf der einen das Männchen, auf der anderen das Weibchen. Die Welt der Lebenden hatte mich wieder.
Schwer atmend blieb ich stehen. Erst in diesem Augenblick dachte ich an Lorenza. Jetzt war ich es, der weinte.
Aber sie war schon dabei, sich aus meinen Adern und Venen zu entfernen und zu entschwinden, als hätte sie nie existiert.
Ich konnte mich nicht einmal mehr an ihr Gesicht erinnern.
In jener Welt von Toten war sie die toteste.
Am Ende des Ganges fand ich eine Treppe, dann eine Tür.
Ich trat in einen verräucherten, übelriechenden Raum, eine Taverne, ein Bistro, eine arabische Bar — dunkelhäutige Kellner, schwitzende Kunden, fettige Bratspießchen und 715
Bierkrüge. Ich trat aus der Tür wie einer, der schon vorher dagewesen war und nur eben pinkeln gegangen ist Niemand bemerkte mich, höchstens vielleicht der Mann an der Kasse, der mir, als er mich hinten auftauchen sah, kaum merklich ein Zeichen machte, indem er kurz die Augen zusammen-kniff, wie um zu sagen, okay, alles klar, ich hab nichts gesehen.
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Könnte das Auge die
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