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Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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aufständischen Massen. Wenn möglich, siehe die Champs Elyses, müssen auch die Seitenstra-
    ßen breit und gerade sein. Wo das nicht möglich war, wie in den engen Gassen des Quartier Latin, hat der Mai 68 sein Bestes gegeben. Wenn man wegläuft, versteckt man sich in die schmalen Gassen. Keine Qrdnungsmacht der Welt kann sie alle kontrollieren, und auch die Bullen haben Angst, in kleinen Gruppen da reinzugehen. Wenn man zweien alleine begegnet, haben sie meistens mehr Angst als man selber, und in stiller Übereinkunft machen sich beide Seiten in der Gegenrichtung aus dem Staub. Wenn man an einer Massen-kundgebung teilnehmen will und die Gegend nicht gut kennt, macht man am Tag davor eine kleine Ortsbesichti-gung, und dann stellt man sich an die Ecke, wo die engen Gassen beginnen.«
    »Haben Sie einen Kurs in Bolivien gemacht?«
    »Die Überlebenstechniken lernt man nur als Kind, es sei denn, man meldet sich zu den Green Berets. Ich habe die schlimmen Jahre, die des Partisanenkriegs, in *** verbracht«
    — er nannte mir ein piemontesisches Städtchen zwischen dem Monferrat und in Nordhängen des ligurischen Apennins. »Ein wahrer Glücksfall für einen, der im Herbst 43 aus der Stadt evakuiert worden war, der richtige Ort und die richtige Zeit, um alles zu genießen: die Razzien, die SS, die Schießereien auf den Straßen... Ich erinnere mich, wie ich eines Abends auf den Hügel stieg, um frische Milch vom Bauern zu holen, da höre ich plötzlich über mir so ein Sirren zwischen den Baumwipfeln: frr, frrr. Ich begreife, daß sie von einer Anhöhe weiter oben auf die Eisenbahnlinie schie-
    ßen, die hinter mir unten durchs Tal läuft. Der instinktive Reflex ist, wegzulaufen oder sich auf den Boden zu werfen.
    Ich mache einen Fehler, laufe talwärts, und plötzlich höre ich aus den Feldern um mich herum ein tschak tschak tschak.
    Es waren die Einschläge der zu kurz geratenen Schüsse, die nicht bis zur Bahnlinie gelangten. Mir wird klar, daß ich, wenn sie von hoch oben ins Tal runterschießen, nach oben weglaufen muß: je höher ich gelangen desto höher fliegen mir die Geschosse über den Kopf. Meine Großmutter hatte einmal, als sie mitten in eine Schießerei zwischen Faschisten 131
    und Partisanen geraten war, die sich aus den Waldrändern rechts und links von ihr über ein Maisfeld hinweg beschossen, eine großartige Idee: da sie auf jeder der beiden Seiten riskierte, von einer verirrten Kugel getroffen zu werden, warf sie sich mitten auf dem Feld zu Boden, genau zwischen den beiden Linien. So blieb sie zehn Minuten lang liegen, mit dem Gesicht nach unten, in der Hoffnung, daß die beiden Linien nicht zu weit vorrückten Es ging gut... Sehen Sie, wenn man diese Dinge als Kind gelernt hat, behält man sie in den Reflexen.«
    »Dann waren Sie also bei der Resistenza?«
    »Als Zuschauer«, sagte er, und ich spürte eine leichte Verlegenheit in seinem Ton. »1943 war ich elf Jahre alt, am Ende des Krieges gerade dreizehn. Zu jung, um aktiv teilzunehmen, alt genug, um alles genau zu verfolgen, mit der Aufmerksamkeit eines Photographen, würde ich sagen. Aber was konnte ich tun? Nur hingehen und gucken. Und weglaufen, so wie heute.«
    »Jetzt könnten Sie’s erzählen, statt die Bücher anderer zu redigieren.«
    »Ist schon alles erzählt worden, Casaubon. Wenn ich damals zwanzig gewesen wäre, hätte ich in den fünfziger Jahren Erinnerungspoesie geschrieben. Zum Glück bin ich zu spät geboren, als ich hätte schreiben können, blieb mir nichts anderes übrig, als die schon geschriebenen Bücher zu lesen.
    Auf der anderen Seite hätte ich auch mit einer Kugel im Kopf in den Hügeln enden können.«
    »Auf welcher Seite?« fragte ich, schämte mich aber dann.
    »Entschuldigen Sie, das war ein dummer Witz.«
    »Nein, das war kein dummer Witz. Sicher, heute weiß ich es, aber eben erst heute. Wußte ich’s damals? Wissen Sie, daß man sein Leben lang von Gewissenbissen geplagt sein kann, nicht weil man die falsche Seite gewählt hat — das könnte man ja wenigstens noch bereuen —, sondern weil man außerstande war, sich selbst zu beweisen, daß man nicht die falsche Seite gewählt hätte... Ich war potentiell ein Verrä-
    ter. Welches Recht hätte ich heute, irgendeine Wahrheit zu schreiben und sie anderen beizubringen?«
    »Also hören Sie«, sagte ich, »potentiell hätten Sie auch ein Ungeheuer wie Jack the Ripper werden können, aber Sie sind es nicht geworden. Das sind doch Neurosen! Oder haben Sie

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