Das Foucaultsche Pendel
Grab ist, wenn er überhaupt irgendwo eins hat!‹ Sie hatte Lust, über ihn zu sprechen: er sei so zärtlich gewesen, so ruhig, methodisch und so gebildet. Er habe die Tage oben in seinem kleinen Mansardenzim-mer verbracht, mit Lesen und Schreiben. Sonst nur ein biß-
chen Gartenarbeit und ein paar Schwätzchen mit dem Apotheker — auch der längst gestorben. Ab und zu, wie gesagt, eine Reise nach Paris, in Geschäften, wie er sich ausgedrückt habe. Aber er sei jedesmal mit einem Päckchen Bücher zu-rückgekommen. Das Zimmer sei noch ganz voll davon, ob ich’s mal sehen wollte? Wir stiegen hinauf. Eine aufgeräum-te und saubere Kammer, in der die gute Mademoiselle Ingolf 154
immer noch einmal wöchentlich Staub wischte, sagte sie, der Mama könne sie ja wenigstens noch Blumen ans Grab bringen, aber für den Papa könne sie nur das tun. Alles sei noch so, wie er es verlassen habe, sie hätte ja gerne studiert, um all diese Bücher lesen zu können, aber es seien lauter Sachen in altfranzösisch, lateinisch, deutsch und sogar russisch, weil doch der Papa in Rußland geboren war und dort die Kindheit verbracht hatte, er war der Sohn eines Beamten der französischen Botschaft gewesen. Die Bibliothek enthielt etwa hundert Bände, die meisten davon (und ich frohlockte) über den Templerprozeß, zum Beispiel die Monumens historiques relatifs à la condamnation des Chevaliers du Temple von Rayn-ouard, 1813, eine antiquarische Kostbarkeit. Viele Bände über Geheimschriften, eine richtige Kryptologensammlung, einige über Paläographie und Diplomatik. Es gab auch ein Kontobuch mit alten Haushaltsrechnungen, und als ich es durchblätterte, fand ich eine Notiz, die mich hochzucken ließ: sie betraf den Verkauf eines Etuis, ohne weitere Angaben und ohne den Namen des Käufers. Es waren keine Zahlen genannt, aber das Datum war 1895, und sofort danach folgten präzise Summen, das Hauptbuch eines klugen Mannes, der seine Ersparnisse mit Umsicht verwaltet. Einige Einträge über den Kauf von Büchern bei Pariser Antiquaren.
Mit einemmal wurde mir klar, wie die Sache gelaufen sein mußte: Ingolf fand in der Höhle ein goldenes Etui, besetzt mit Edelsteinen, steckte es sich ohne lange zu überlegen in die Tasche, stieg wieder hinauf und sagte kein Wort zu seinen Kameraden. Zu Hause öffnete er das Etui und fand darin ein Pergament. Er fuhr nach Paris, kontaktierte einen Antiquar, einen Halsabschneider, einen Sammler, und ver-schaffte sich durch den Verkauf des Etuis, wenn auch unter Preis, ein kleines Vermögen. Aber er tat noch mehr, er quit-tierte den Dienst, zog sich aufs Land zurück und fing an, sich Bücher zu kaufen und das Pergament zu studieren. Vielleicht hatte er schon den Schatzsucher in sich, sonst wäre er nicht in den Untergrund von Provins gestiegen, vielleicht hatte er genügend Bildung, um zu beschließen, daß er seinen Fund allein entziffern könnte. Er arbeitete in aller Ruhe, ohne sich zu hetzen, als guter Monomane, mehr als dreißig Jahre lang. Erzählte er jemandem von seinem Fund? Wer weiß. Tatsache ist, daß er 1935 glaubte, am richtigen Punkt 155
angelangt zu sein, oder auch an einem toten Punkt, denn nun beschloß er, sich an jemanden zu wenden, entweder um ihm zu sagen, was er wußte, oder um sich von ihm sagen zu lassen, was er nicht wußte. Aber das, was er wußte, muß etwas so Geheimes und Schreckliches gewesen sein, daß der, dem er davon erzählte, ihn verschwinden ließ... Doch zu-rück zu der Mansarde. Erst einmal mußte ich sehen, ob Ingolf nicht irgendwelche Spuren hinterlassen hatte. So sagte ich zu der guten Mamsell, vielleicht würde ich, wenn ich die Bücher ihres Herrn Vaters durchsähe, eine Spur von seiner Entdeckung in Provins finden und könnte ihn dann in meiner Studie ausführlich würdigen. Sie war begeistert, der arme Papa, sagte sie, natürlich, ich könne den ganzen Nachmittag bleiben und wenn nötig auch am nächsten Tag wie-derkommen, sie brachte mir Kaffee, machte mir Licht an und ließ mich allein. Das Zimmer hatte glatte weiße Wände, nirgends waren Kommoden, Kästen, Truhen oder dergleichen, in denen man suchen konnte, aber ich vernachlässigte nichts, schaute unter, auf und in die wenigen Möbel, in einen fast leeren Kleiderschrank, in dem es nach Mottenpulver roch, schaute hinter die drei, vier Bilder mit Landschaftsdrucken.
Ich erspare Ihnen die Einzelheiten, ich sage nur, daß ich gut gearbeitet habe, das Sofapolster muß nicht nur abgetastet werden, man muß
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