Das Foucaultsche Pendel
bemerkt, daß Belbo das Mädchen befragen wollte, und hatte es ebenfalls eliminiert. Danach, um die Ermittler irrezuführen, hatte er auch den Geliebten des Mädchens eliminiert und einen Zuträger der Polizei bewogen, die Geschichte mit der Flucht zu erzählen.
So einfach alles, wenn es einen Plan gegeben hätte. Aber gab es denn einen, wo wir ihn doch erst erfinden sollten, und zwar erst viel später? Ist es möglich, daß die Realität nicht nur die Fiktion überholt, sondern ihr vorauseilt, ja vorausei-lend ihr zuvorkommt, um die Schäden zu reparieren, die die Fiktion erst anrichten wird?
Damals jedoch, in Brasilien, waren nicht dies die Gedanken, die der Brief in mir anregte. Eher hatte ich erneut das Gefühl, daß etwas an etwas anderes erinnerte. Ich dachte an meine Reise nach Bahia und verbrachte einen ganzen Nachmittag in Buch- und Devotionalienläden, die ich bisher vernachläs-
* Nach 120 Jahren werde ich offenstehen.
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sigt hatte. Ich fand versteckte, fast geheime Boutiquen mit Regalen voller Kultgegenstände, Statuen und Idole. Ich erstand Perfumadores de Yemanjá, Duftkegel mit einem beißenden Geruch, Räucherstäbchen, Spraydosen mit einem süßlichen Spray, benannt nach dem Heiligen Herzen Jesu, Amulette für wenig Geld. Und ich fand Bücher in Mengen, einige für die Frommen, andere für die, die die Frommen studierten, alles zugleich, Formulare zum Exorzieren, Manuale zum Wahrsagen aus einer Glaskugel, Como adivinhar o futuro na bola de cristal, und Lehrbücher der Anthropologie. Und eine Monographie über die Rosenkreuzer.
Alles schoß plötzlich zusammen. Satanische und maurische Riten im Tempel zu Jerusalem, afrikanische Medizin-männer für die Subproletarier aus dem Sertao, die Botschaft aus Provins mit ihren hundertzwanzig Jahren und die hundertzwanzig Jahre der Rosenkreuzer.
War ich ein wandelnder Shaker geworden, nur noch gut zum Vermixen diverser Spirituosen, oder hatte ich einen Kurzschluß ausgelöst, indem ich über ein Knäuel bunter Drähte gestolpert war, die sich ganz von alleine verhedder-ten, und das schon seit langer Zeit? Ich kaufte mir das Buch über die Rosenkreuzer. Dann sagte ich mir, wenn ich noch ein paar Stunden länger in diesen Buchläden geblieben wäre, hätte ich von Obersten Ardenti und übersinnlichen Mädchen mindestens ein Dutzend getroffen.
Ich ging nach Hause und teilte Amparo offiziell mit, daß die Welt voll Denaturierter sei. Sie versprach mir Trost, und wir beendeten den Tag naturaliter.
Gegen Ende 1975 beschloß ich, mir die Ähnlichkeiten aus dem Kopf zu schlagen und alle Kraft meiner Arbeit zu widmen. Schließlich sollte ich italienische Kultur lehren und nicht die Rosenkreuzer.
Ich vertiefte mich in die Philosophie des Humanismus und entdeckte, daß die Menschen der nüchternen Neuzeit, kaum aus dem finsteren Mittelalter getreten, nichts Besseres zu tun wußten, als sich in Kabbala und Magie zu vertiefen.
Nach zwei Jahren Beschäftigung mit Humanisten, die Formeln rezitiert hatten, um die Natur zu bewegen, Dinge zu tun, die sie nicht tun wollte, erhielt ich Nachrichten aus Italien. Meine einstigen Genossen, oder jedenfalls einige von 205
ihnen, erledigten Andersgesinnte mit Genickschüssen, um die Leute zu bewegen, Dinge zu tun, die sie nicht tun wollten.
Ich begriff nicht. Beschloß, mich nunmehr als Teil der Dritten Welt zu betrachten, und entschied mich, nach Bahia zu fahren. Ich fuhr los mit einer Geschichte der Renaissance-Kultur unterm Arm — und mit dem Buch über die Rosenkreuzer, das unaufgeschnitten im Regal geblieben war.
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Alle Traditionen der Erde sind zu betrachten als Traditionen einer grundlegenden Mutter-Tradition, die von Anfang an dem schuldigen Adam
und seinen ersten Sprößlingen anvertraut wor-
den war.
Louis-Claude de Saint Martin, De l’esprit des choses, Paris, Laran, 1800, II, »De l’esprit des traditions en général«
Und ich sah Salvador, Salvador da Bahia de Todos os Santos, das »schwarze Rom« mit seinen dreihundertfünfund-sechzig Kirchen, die sich hoch auf der Hügellinie erheben oder sanft in die Bucht schmiegen und in denen die Götter des afrikanischen Pantheons verehrt werden.
Amparo kannte einen naiven Maler, der große Holztafeln voll biblischer und apokalyptischer Visionen malte, leuchtend wie mittelalterliche Miniaturen, mit koptischen und byzantinischen Elementen. Er war natürlich Marxist, sprach von der baldigen Revolution und verbrachte die Tage träumend in den Sakristeien
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