Das Foucaultsche Pendel
versiegelt sind. Der Okkultismus hingegen, der sich im neunzehnten Jahrhundert ausbreitet, ist nur die Spitze des Eisbergs, das wenige, was vom esoterischen Geheimnis auftaucht. Die Templer waren Initiierte, und der Beweis dafür ist, dass sie, als sie gefoltert wurden, lieber starben, als ihr Geheimnis preiszugeben. Die Kraft, mit welcher sie es verbargen, macht uns ihrer Initiation gewiss und erfüllt uns mit Sehnsucht nach dem, was sie wussten. Der Okkultist hingegen ist ein Exhibitionist, und wie Péladan sagte, ein aufgedecktes Initiationsgeheimnis ist zu nichts mehr nütze. Leider war Péladan kein Initiierter, sondern bloß ein Okkultist. Das neunzehnte Jahrhundert ist das Jahrhundert der Angeberei. Alle bemühen sich unentwegt, irgendwelche Geheimnisse aufzudecken — die Geheimnisse der Magie, der Theurgie, der Kabbala, der Tarotkarten. Und womöglich glauben sie auch noch daran... «
Agliè überflog den Rest unserer Liste, nicht ohne da und dort mitleidig zu lächeln. »Die arme Helena Petrowna. Eine brave Frau im Grunde, aber sie hat nichts gesagt, was nicht schon auf allen Mauern geschrieben stand... De Guaita, ein süchtiger Bibliomane. Papus, na wohl bekomm's... «
Dann stutzte er plötzlich.
»Tres... Woher haben Sie das? Aus welchem Manuskript?«
Bravo, dachte ich, er hat den Zusatz bemerkt. Wir blieben vage: »Ach wissen Sie«, sagte ich, »die Liste ist beim Durchblättern verschiedener Texte zusammengestellt worden, und das meiste haben wir wieder gestrichen, weil's wirklich Unsinn war. Wissen Sie noch, woher dieses Tres kam, Belbo?«
»Glaube nicht. Du, Diotallevi?«
»Och, das war schon vor Tagen... Ist das wichtig?«
»Nein, nein, ganz und gar nicht«, versicherte uns Agliè. »Ich frage nur, weil ich es noch nie gehört habe. Wissen Sie wirklich nicht mehr, wer das zitiert hat?«
Es tat uns sehr leid, wir konnten uns nicht erinnern.
Agliè zog seine Uhr aus der Weste. »Mein Gott, ich habe ja noch eine andere Verabredung. Entschuldigen Sie mich.«
Er eilte davon, und wir blieben noch, um die Lage zu diskutieren.
»Jetzt ist alles klar. Die Engländer haben die Idee mit der Freimaurerei lanciert, um alle Initiierten in ganz Europa um Bacons Projekt zu versammeln.«
»Aber das Projekt ist nur halb gelungen: die Idee der Baconianer war so faszinierend, das sie unerwartete Resultate erbrachte. Die sogenannte schottische Strömung missverstand den neuen Geheimbund als eine Möglichkeit zur Rekonstruktion der unterbrochenen Abfolge und nahm Kontakt zu den deutschen Templern auf.«
»Agliè findet die Sache unverständlich. Das ist klar. Nur wir können jetzt sagen, was passiert ist — was wir wollen, dass passiert sei. Also: die verschiedenen nationalen Gruppen geraten miteinander in Streit, ich würde nicht ausschließen, dass dieser Martines de Pasqually ein Agent der portugiesischen Gruppe ist, die Engländer desavouieren die Schotten, sprich die Franzosen, die Franzosen sind in zwei Lager geteilt, in das pro-englische und das pro-deutsche. Die Freimaurerei ist nur der äußere Deckmantel, der Vorwand, unter dem all diese Agenten verschiedener Gruppen — Gott weiß, wo die Paulizianer und die Jerusalemer geblieben sein mögen — sich treffen und sich bekämpfen, um sich gegenseitig ein Stückchen des Geheimnisses zu entreißen.«
»Die Freimaurerei als so was wie Ricks Café Américain in Casablanca«, sagte Belbo. »Das Gegenteil dessen, was man gemeinhin glaubt. Die Freimaurerei ist kein Geheimbund.«
»Nein, wirklich nicht, nur ein Freihafen, wie Macao. Eine Fassade. Das Geheimnis ist woanders.«
»Arme Maurer.«
»Der Fortschritt verlangt seine Opfer. Aber geben Sie zu, dass wir dabei sind, eine immanente Rationalität der Geschichte wiederzufinden.«
»Die Rationalität der Geschichte ist das Resultat einer guten Neuschrift der Torah«, sagte Diotallevi. »Und genau die betreiben wir hier, und gelobt sei der Name des Allerhöchsten immerdar.«
»Na gut«, schloss Belbo. »Jetzt haben die Baconianer also Saint-Martin-des-Champs, und der deutschfranzösische Neutemplerismus zerfällt in eine Myriade von Sekten... Aber wir haben immer noch nicht entschieden, um welches Geheimnis es eigentlich geht«
»In der Tat, das habt ihr noch nicht«, sagte Diotallevi.
»Ihr? Hier sind wir alle drei gefragt. Wenn wir das nicht ordentlich klären, stehen wir dumm da.«
»Vor wem?«
»Vor der Geschichte, vor dem Tribunal der Wahrheit.«
» Quid est veritas? « fragte
Weitere Kostenlose Bücher