Das Frankenstein-Projekt (German Edition)
vibrierend, marschierte Adrian um kurz nach eins schnurstracks in Herrn Waldmanns Kabuff. Der Hausmeister wartete bereits auf ihn.
»Komm rein«, sagte er. »Ach, und ehe ich es noch vergesse.« Er kramte umständlich in seiner Gesäßtasche und förderte schließlich Adrians Fahrradschlüssel zutage. »Bitte schön. Sonst kommst du nachher nicht von hier weg.«
Adrian hatte unterdessen schon die eBay-Seite aufgerufen und gab sein Passwort ein. Ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, sagte er: »Ehrlich gesagt, brenne ich nicht gerade darauf, nach Hause zu fahren. Tante Margret lässt in letzter Zeit ziemlich oft die Oberlehrerin raushängen. Was die Schule angeht, hat man irgendwie ständig das Gefühl, sie sitzt einem im Nacken.«
»Ach, schimpf nicht auf sie«, sagte Herr Waldmann. »Niemand kann aus seiner Haut. Auch deine Tante nicht. Lehrer sind eben Lehrer. Wäre dir ein Gefängniswärter lieber? Die sind so verrückt, die schließen auch privat immer alles ab.«
Zwei lebendige Flugkapitäne wären mir lieber, dachte Adrian, schwieg jedoch. Das Bild eines Flugzeugs, das mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Felsen prallt und in einem Feuerball explodiert, war plötzlich wieder da – machtvoll, gleißend hell und überdeutlich. Immer wenn es kam, löschte es die übrigen, ohnehin nur schemenhaften Erinnerungsbilder seiner Eltern vorübergehend aus, wie Fotos auf einem falsch belichteten Film. Mit einem Kopfschütteln versuchte er, das Bild zu vertreiben.
»Du könntest wenigstens ein bisschen dankbarer sein«, fuhr Herr Waldmann fort, als habe er Adrians Gedanken gelesen. »Ohne sie wärst du im Kinderheim gelandet. Fändest du das etwa besser? Außerdem ist Margret … ich meine, deine Tante … eigentlich ist sie doch gar nicht mal so verkehrt. Sie ist nur ein bisschen – na ja, keine Ahnung, etwas einsam vielleicht.«
Adrian war das leichte Stocken in Herrn Waldmanns Stimme keineswegs entgangen. »Weil sie keinen Mann hat, meinen Sie?« Seine Finger huschten über die Tastatur.
»Hm.« Hüstelnd zuckte Waldmann die Achseln. »Was weiß ich? Schon möglich. Könnte doch immerhin sein.«
»Na, gehen Sie doch mal was mit ihr essen, wenn Sie sie so toll finden«, meinte Adrian. »Oder ins Kino vielleicht.« Dann stieß er einen unterdrückten Jubelschrei aus und schlug vor Freude mit der Faust auf den Schreibtisch, sodass die Tastatur einen kleinen Sprung vollführte und ein paar Bleistifte über die Tischkante tanzten und zu Boden fielen. » Ja! Ich habe das Ding.«
Herr Waldmann beugte sich über Adrians Schulter und sah sich die aufgerufene Internetseite an.
Sie waren der Höchstbietende bei dieser Auktion.
Alter Koffer – Dachbodenfund
Beendet: 20. Juli 2011 22:38:58 MESZ
Erfolgreiches Gebot: £ 14,95 (2 Gebote)
Verkäufer: xmouse29 (327)
Biete alten Koffer mit Messingbeschlägen. Enthält ein leeres Notizbuch (sieht sehr alt aus) und einige Blätter vergilbtes Papier mit div. Rissen (siehe Fotos). Koffer und Inhalt befanden sich, soweit ich weiß, seit Jahrzehnten auf unserem Speicher. Monogramm MWSH auf Kofferdeckel geprägt.
Artikelstandort: Horsham, UK Versand weltweit
Zu sehen waren außerdem vier Fotos, die den kleinen Koffer und seinen Inhalt zeigten. Darunter eine Detailaufnahme des Kofferdeckels mit den eingeprägten Initialen. Bei dem Anblick bekam Adrian ganz glasige Augen.
»Und was ist an dem alten Ding nun so interessant?«, fragte Herr Waldmann. »Kommt mir vor, als würde man heutzutage den ganzen Dreck, den man nicht mehr haben will, einfach ins Internet stellen. Zu meiner Zeit haben wir so was zur Müllkippe getragen.«
»Und bares Geld weggeworfen«, meinte Adrian.
»Na, ich weiß ja nicht. Außer dir und vermutlich irgendeinem Messie hat kein Mensch sonst darauf geboten.«
»Na und?« Adrian ging auf die PayPal-Seite, wo er einen Account mit Tante Margrets Kreditkarte eingerichtet hatte, und drückte auf Zahlung ausführen. »Hauptsache ich habe ihn gekriegt, und nicht der Messie.«
»Wie du das immer machst«, sagte Herr Waldmann ehrlich beeindruckt. »Hast du denn keine Angst, dass sie irgendwann dahinterkommt? Ich meine, sieht sich deine Tante denn nie ihre Abrechnungen an?«
»Das fällt überhaupt nicht auf«, sagte Adrian. »Sie bestellt selbst so viel Zeug, dass sie keinen Überblick mehr hat. Jeden Tag kommen irgendwelche Päckchen an.«
»Wirklich? Vielleicht ist ihr langweilig«, meinte Herr Waldmann nachdenklich blinzend. »Alles
Weitere Kostenlose Bücher