Das Frankenstein-Projekt (German Edition)
rundes Pillendöschen von Fabergé aus der Manteltasche, entnahm ihm zwei gelbe Kapseln und gab sie Renfield. Dann sagte er: »Haben Sie zur Abwechslung auch mal eine gute Nachricht für mich?«
»Aber ja. Lassen Sie mich kurz nachdenken …« Dann schnippte Renfield begeistert mit den Fingern, als es ihm einfiel: »Wir haben immerhin bereits die Adresse des Käufers in Deutschland.«
»Ach? Und woher haben wir die?«
Renfield lächelte. »Natürlich von meiner Kontaktperson, Monsieur.«
Im selben Augenblick tauchte der Kellner mit einem Block in der Hand am Tisch auf und fragte nach ihren Wünschen.
»Absinth«, sagte Rains, ohne ihn anzusehen, schob einen Zwanzigeuroschein über den Tisch und fuchtelte mit der Hand, als sei der Mann ein lästiges Insekt, das es zu verscheuchen galt. »Für beide«, setzte er hinzu, als der Kellner auch noch die Penetranz besaß, sich Renfield zuzuwenden.
»Sehr wohl, Monsieur. Zwei Absinth für Monsieur.«
Wenn ihm die beiden Männer auch nur eine Spur merkwürdig vorkamen, so ließ er es sich wenigstens nicht anmerken. Paris ist nicht nur die Stadt der Liebe. Es ist auch die Stadt der Künstler. Niemand nimmt Anstoß an ihnen. Und die hier waren ihrem Äußeren nach zu urteilen entweder Künstler oder Clochards. Solange sie allerdings imstande waren, für ihre Bestellung zu zahlen, konnte ihm das reichlich egal sein. Er bedankte sich mit einer angedeuteten Verbeugung und verschwand.
Und Monsieur Rains war tatsächlich ein ziemlich sonderbarer Mann. Vor vielen Jahren einmal war er in seiner Heimatstadt Nantes ein hoch angesehener Arzt gewesen. Doch dann hatte er ein Unsichtbarkeitsserum entwickelt und es sich in seiner Begeisterung selbst verabreicht, ohne groß über die Konsequenzen nachzudenken. Dummerweise war die Wirkung nicht umkehrbar. Seither war Rains völlig unsichtbar, sobald er seine Kleider ablegte und nackt herumlief. Um nicht aufzufallen, trug er daher auch im Sommer Handschuhe, Schal und Mantel. Versuche, sein unsichtbares Gesicht mit Theaterschminke sichtbar zu machen, hatten sich als Fehlschlag erwiesen. Die leiseste Anstrengung, und der Schweiß ließ die Schminke verlaufen. Einmal unbedacht an der Stirn gekratzt und man konnte ihm ungehindert in den scheinbar hohlen Schädel sehen. Eine Maske wäre zu auffällig gewesen. Die Bandagen, die er trug, hatten sich als beste Lösung herausgestellt. Außer Grenzbeamten auf Flughäfen war niemand so gefühllos, einen offenbar verletzten, bandagierten Mann darum zu bitten, seine Verbände abzunehmen. Monsieur Rains war ein sehr unglücklicher Mann. Verzweifelt suchte er nach einer Möglichkeit, wieder ganz und gar sichtbar zu werden. Mit den Aufzeichnungen, die sich in dem kleinen, ledernen Handkoffer aus dem Internet befanden, könnte ihm das durchaus gelingen.
»Und wo in Deutschland wird der Koffer Ihrem geheimnisvollen Informanten zufolge ankommen?«, fragte Rains. Er klang ein bisschen gereizt. »Wer ist der Kerl, der die Dreistigkeit besessen hat, mich auszubooten?«
»Eine Person in Ingolstadt«, sagte Renfield.
Rains, der auf das Wort »Person« mittlerweile ziemlich allergisch reagierte, zuckte merklich zusammen. »Zum Teufel mit Ihren kryptischen Bemerkungen, Renfield. Haben wir den verfluchten Namen oder haben wir ihn nicht?«
»Ja, Monsieur.«
»Was, ja?«
»Wir haben den verfluchten Namen, Monsieur.«
»Und wer ist es nun?«
»Eine pensionierte Lehrerin. Alleinstehend. Eine Frau namens Bertram.«
»Das ist ein Männer name, Renfield!«
»Es ist der Nach name der Frau.«
Rains, der immer und überall Agenten witterte, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Klingt für mich nach einer Scheinidentität.«
»Kann ich mir nicht denken, Monsieur.«
»Wieso sollte eine Lehrerin diesen Koffer ersteigern wollen? Außer für Night und mich ist er für niemanden von Wert.«
»Sie würden sich wundern, was die Leute so alles im Netz kaufen«, meinte Renfield und schüttelte den Kopf über die merkwürdigen Schrullen seiner Mitmenschen. »Wer weiß, vielleicht sammelt die Frau Koffer? Oder sie hat etwas, was sie hineintun will. Andererseits eignen sich alte Koffer hervorragend, um eine kleine Zucht anzulegen. Mit Borkenkäfern. Oder eine Ameisenfarm möglicherweise.«
Rains hatte keine Lust, näher darauf einzugehen. »Wenn wir sie haben, können Sie davon ausgehen, dass die Agency ebenfalls im Besitz der Adresse ist«, meinte er. »Der alte Night kommt immer so schön
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