Das Frankenstein-Projekt (German Edition)
»Autsch!«
»Selbstverständlich, Monsieur«, sagte Renfield und klopfte sich ein paarmal mit der rechten geschlossenen Faust (in der sich ein besonders fettes und glänzendes Exemplar eines Silberfisches schlängelte) gegen die Brusttasche, in der die Tickets steckten.
»Ich möchte keine Überraschungen mehr erleben.«
»Das werden Sie auch nicht«, sagte Renfield und der Silberfisch verschwand in seinem Mund. »Das kann ich Ihnen versichern.«
Im selben Augenblick, als Rains die Toilettentür wieder öffnete, sah der rothaarige Mann zufällig auf und blickte in den Spiegel rechts neben sich. Er konnte genau in die Kabine sehen, die Rains eben betreten hatte. Er hatte sich schon gefragt, was das bloß für eine merkwürdige Gestalt war und warum der Mann Bandagen trug, dann aber angenommen, es handle sich um das bemitleidenswerte, entstellte Opfer eines Brandes. Jetzt war die Kabine bis auf den schwarzen Koffer, der geöffnet auf dem heruntergeklappten Deckel der Toilettenschüssel lag, leer. Soviel er sehen konnte, lagen die Kleider und Bandagen darin – und obenauf die schwarze Brille.
Das war doch unmöglich! Schließlich hatte er genau gesehen, wie der Kerl die Kabine betreten hatte. Jetzt war er nicht mehr da. Einfach so verschwunden. Im Klo runtergespült womöglich. Denn er konnte sich ja schlecht mir nichts, dir nichts in Luft aufgelöst haben.
Dann geschah etwas noch Unglaublicheres. Der Koffer, der eben noch flach auf dem Deckel der Toilette gelegen hatte, schloss sich und die Verschlüsse rasteten mit einem metallischen Klicken ein. Schließlich richtete er sich wie durch Telekinese auf!
Der Rothaarige konnte von Glück sagen, dass er nicht mehr an der Pinkelbirne stand – höchstwahrscheinlich hätte er sich dann auch noch das andere Hosenbein nass gemacht.
Der Griff des Attaché-Koffers klappte hoch, und das ganze verdammte Ding schwebte aus der Toilettenkabine hinaus auf den Gang, wo der Mann mit dem zu kurzen und zu engen schwarzen Anzug an der Wand lehnte.
»Wie lange haben wir noch, Renfield?«, fragte eine körperlose Stimme, die ganz ohne Zweifel aus der Richtung der offenen Kabine kam, wo der Koffer immer noch wie ein mit Gas gefüllter Luftballon einen Meter über dem Boden in der Luft hing. Derweil schloss sich die Kabinentür wie von unsichtbarer Hand bewegt, und der Koffer schwebte quer durch den Raum.
»Es besteht kein Grund zur Eile. Wir haben noch jede Menge Zeit, Monsieur.«
Der rothaarige Mann wandte sich um und sah, wie Renfield hastig ein, zwei Silberfischchen von den gesprungenen dunklen Wandkacheln schnappte und sie sich wie eine Handvoll gesalzener Erdnüsse in den Mund warf, ehe er den auf ihn zuschwebenden Koffer aus der Luft griff und ihn sich unter den Arm klemmte.
Die feuchten Abdrücke nackter menschlicher Füße, die auf den dunklen Fliesen des Fußbodens erschienen waren, bemerkte der Rothaarige erst auf den zweiten Blick. Senkspreizfüße, stellte er ganz automatisch und sachlich fest, denn er war als Vertreter für orthopädische Schuheinlagen unterwegs. Und die Fußspuren bewegten sich genau auf ihn zu!
Renfield sah erst jetzt, dass der Mann sich umgedreht hatte, wie hypnotisiert den Koffer anstarrte und dann auf den Boden blickte, wo sich deutlich Rains’ Fußabdrücke abzeichneten. Renfields erster Impuls war, auf den Mann zuzugehen und ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Aber der Kerl sah aus, als würden ihm jeden Augenblick die Augäpfel aus den Höhlen springen. Und dann tat er von schierer Panik übermannt das, was ihm der Urinstinkt des Überlebenwollens diktierte: Er stieß einen markerschütternden Schrei aus, nahm die Beine in die Hand und ergriff die Flucht. Krachend schlug die Tür des Waschraums hinter ihm zu.
»Großer Gott, Renfield!«, rief Rains. »Warum haben Sie ihn nicht aufgehalten?«
»Das war nicht nötig.«
»Und was, wenn er zum Sicherheitsdienst rennt?«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Monsieur«, sagte Renfield. In aller Seelenruhe trat er ans Waschbecken, stellte den Koffer ab und betrachtete sich im Spiegel. »Was kann er schon groß erzählen, außer dass er die Fußspuren eines unsichtbaren Mannes gesehen hätte. Aber seien wir mal ehrlich: Wer würde ihm glauben wollen? Man müsste schon ziemlich verrückt sein, oder nicht? Was denken Sie? Wahrscheinlich würde man ihn ohnehin bloß auslachen … Monsieur, sind Sie überhaupt noch hier?«
»Selbstverständlich.« Rains klang merklich ungehalten. »Hier drüben bei
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