Das Frankenstein-Projekt (German Edition)
jagte ihr eisige Schauer über den Rücken. Doch sie wusste um Purdys kindliche Ader. Im Grunde war sie froh, dass er sich in Wayermann’s Christmas Store keinen tanzenden Weihnachtsbaum gekauft hatte. »Hauptsache, du weißt noch, wo unser Wagen steht«, sagte sie. »Ich habe keine Lust, den ganzen Weg zu Fuß zu gehen.«
Die restliche Wegstrecke legten sie fast ausschließlich schweigend zurück, denn Purdy schmollte. Bis zu der Stelle, wo sie den Wagen übernehmen würden – einem geheimen Ort, der etwa drei Kilometer außerhalb von Rothenburg lag –, sprach er nur das Nötigste. Er trug ein mobiles GPS-Gerät vor sich her, um die für das Versteck angegebenen Koordinaten zu finden.
Eine halbe Stunde später erreichten sie ein kleines Wäldchen außerhalb der Stadtgrenzen von Rothenburg, wo es schattig und merklich kühler war. Purdy steuerte zielstrebig auf eine gut vier Meter hohe, scheinbar halb verfallene Bruchsteinmauer zu, die zu einem kleinen, von Löschteichen umgebenen Wasserreservoir gehörte und an der sich die Efeu- und Rosenranken gegenseitig den Besitzanspruch streitig zu machen versuchten. Eine Schar Schwarzdrosseln flog auf, als Millycent und Purdy näher kamen und sich mit abgebrochenen Ästen durch das Gestrüpp kämpften.
»Irgendwo hier muss es sein«, sagte Purdy. Er warf einen letzten Blick auf das GPS-Gerät, steckte es ein und ging dann in die Hocke.
»Bist du sicher?« Millycent betrachtete ihn skeptisch. »Ist dir aufgefallen, wie zugewachsen das alles ist? Vielleicht hast du das GPS nicht richtig eingestellt.«
Purdy antwortete nicht. Mit den Fingerspitzen beider Hände tastete er konzentriert die untersten Mauerfugen ab, die sich etwa fünf Zentimeter über dem Boden befanden. Was Geheimtüren in abgelegenen Verstecken betraf, ging die Agency nach demselben Prinzip vor wie bei ihren Toten Briefkästen. Die unscheinbaren Verstecke, in denen Darwin Nights Agenten im Notfall vertrauliche Botschaften hinterlassen konnten, ohne auf Internet oder Handy angewiesen zu sein, lagen fast immer in Bodennähe. Genau wie der auszulösende Mechanismus. Man machte sich einfach nur zunutze, dass die meisten Leute zu faul waren, sich zu bücken. Das, wonach er suchte, war nur eine kleine, vielleicht erbsengroße Erhebung im Mörtel. Als er sie ertastet hatte, wischte er einige Male mit dem Daumen darüber und pustete den bröckeligen Mörtel fort.
Das Schloss war mit einem winzigen Kameraauge ausgestattet. Maxwell Purdy zog den mit einem Barcode bedruckten Plastikstreifen aus seiner Brieftasche und strich einmal langsam und gleichmäßig darüber. Es dauerte einige Sekunden, bis das Lesegerät die Daten nach London ins Hauptquartier übertragen hatte.
Ein leiser Piepton war zu hören, gefolgt vom Klick-Klack der entsperrten Riegel. Dann ein schwaches Schnarren, als die vier Servomotoren ansprangen, die das als Bruchsteinwand getarnte Garagentor öffneten. Der Mercedes-Van, der darin stand, war schwarz mit stark getönten Scheiben, schlicht und unauffällig. Genau das Richtige für den Job.
Maxwell Purdy schob die Seitentür auf und kletterte in den Fond des Wagens, während Millycent die Fahrertür öffnete und gleich den Platz hinter dem Steuer für sich in Anspruch nahm. Die Rechner fuhren hoch, surrend sprangen die Lampen der Notbeleuchtung an und tauchten das Innere des Vans in bläuliches Licht.
»Wir sind verdammt spät dran, Millycent«, sagte Purdy, der irgendwo hinter ihr im Fond des Wagens mit Schaltern und Knöpfen hantierte. »Wir sollten einen Zahn zulegen. Es ist schon elf und wir brauchen bestimmt anderthalb Stunden bis Ingolstadt.«
»Ich kann die Uhr lesen, Maxwell. Aller Augen warten auf dich«, sagte sie, wohl immer noch ein bisschen in Weihnachtsstimmung. »Wirst du es hinkriegen?«
»Hey, ich mach das hier nicht zum ersten Mal.«
»Ich frag ja nur. Sag mal, bist du immer noch eingeschnappt wegen dem Holzkarren vorhin?«
Purdy hob die Augenbrauen und schnaufte hörbar, erwiderte aber nichts. Es hatte keinen Zweck, mit Banausen zu reden. Er gab die Zielkoordinaten in das System ein, und nur Sekunden später blinkte die System-ready- Leuchte des Navigationsgerätes auf. Der Wagen sprang an, ohne dass Millycent irgendetwas getan hatte. Der 200-PS-Diesel tuckerte abwartend.
»Eine Stunde fünfzig Minuten, wenn wir die längste Strecke nehmen«, sagte sie nach einem Blick auf den Touchscreen vor sich. »Zwei Stunden sechs für die kürzeste. Ist das nicht einfach
Weitere Kostenlose Bücher