Das Frankenstein-Projekt (German Edition)
mit der schicken Bluse, die ich bestellt habe, dachte Margret Bertram, während sie durch den Flur zur Haustür ging. Sie war schon ganz aufgeregt, sie gleich auspacken und anprobieren zu können.
Vor dem Spiegel in der Garderobe blieb sie kurz stehen. Sie strich sich mit den Händen durchs Haar, wobei sie ihre Finger wie einen Kamm benutzte, setzte ihr Guten-Morgen-das-ist-aber-eine-schöne-Überraschung-Lächeln auf und öffnete.
Doch sie hatte sich geirrt. Es war nicht der Mann von der Post. Ihr Lächeln verschwand, als habe es jemand ausgeknipst. Vor ihr stand ein stämmiger Mann im dunkelgrauen Anzug. Und in der Hand hielt er eine Pistole.
Die Jagd beginnt
Rothenburg ob der Tauber, Deutschland
Eine der geheimen Außenstellen der Agency in Deutschland befindet sich in Rothenburg ob der Tauber, und zwar in einem Geschäft, das sich Wayermann’s Christmas Store and Museum nennt und auf rund 150 Quadratmetern eisig glitzernder Winterlandschaft ganzjährig Weihnachtsdekorationen verkauft.
Das Erstaunliche ist nicht einmal, dass hier selbst im Hochsommer Horden von asiatischen Touristen durch die mit künstlichem Schnee und funkelndem Lametta bedeckten Räume geschleust werden; wirklich erstaunlich ist eigentlich nur, dass bislang noch niemandem das Absurde an dieser Einrichtung aufgegangen ist und niemals je ein Mensch Verdacht geschöpft hat, es könne dort nicht mit rechten Dingen zugehen.
Die hinter einer grün lackierten Sperrholztanne verborgene Tür glitt geräuschlos beiseite und plötzlich standen Millycent Miller und Maxwell Purdy im Gewimmel der Touristen.
Der Wechsel von absoluter Stille hinein in dieses geschäftige Treiben, das vielsprachige Stimmengewirr und die sich durch die weiße Winterwelt schiebenden Massen hatte jedes Mal etwas Unwirkliches, fast Gespenstisches, fand Purdy. Es gab eben Dinge, an die man sich niemals gewöhnte.
Das Licht war gedämpft, bunt geschmückte Weihnachtsbäume standen lamettabehangen inmitten einer glitzernden Winterwelt aus künstlichem Schnee und Eis und aus jeder Ecke erklang ein anderes Weihnachtslied.
Bis auf ein knopfäugiges, asiatisches Mädchen von höchstens vier Jahren, das sie beide verzaubert lächelnd anstarrte, als sie urplötzlich aus der Wand traten, schien sie niemand sonst zu bemerken. Das Mädchen rief »Nà! Nà!«, zerrte an der Hand seiner Mutter und zeigte immer wieder auf die Tanne, hinter der Purdy und Miller hervorgekommen waren, aber der Mutter war es vermutlich einerlei. Sie reagierte nicht. Das kleine Mädchen sah ihnen immer noch nach, den Zeigefinger ausgestreckt. »Nà!«, rief es wieder. »Nà! Nà! Naaaaaà!«
Purdy, der seine eingerosteten Sprachkenntnisse zusammensuchte, wandte sich um, beugte sich zu dem Kind hinunter und schlug sich zweimal mit der Faust gegen die Brust. »Yinhún!«, zischte er. Das chinesische Wort für Geistererscheinung.
Die Kleine verstummte sofort. Er hätte wohl genauso gut »Halt endlich den Rand!« sagen können.
Millycent Miller stand mit verschränkten Armen da und wartete bereits auf dem Gehsteig auf Purdy, als der endlich aus dem kunterbunten Winterwunderland hinaus auf die sonnenbeschienene Straße trat.
»Mensch, Maxwell, warum hat denn das so lange gedauert?«, fragte sie genervt. »Wir haben schließlich nicht den ganzen Tag Zeit.«
Purdy breitete im Gehen die Arme aus. »Ich musste doch wohl erst mal das Mädchen zum Schweigen bringen.«
»Und was hast du gemacht?«
»Na, was jeder vernünftige Mensch in so einem Fall getan hätte«, sagte Purdy und grinste. »Die Kleine umgebracht natürlich.«
Millycent wölbte lediglich die rechte Augenbraue. »Was bist du doch für ein Scherzkeks«, sagte sie.
Maxwell Purdy kam gern nach Rothenburg. Er war ganz vernarrt in die alte Stadt mit ihren hohen Mauern und Wallanlagen und dem am Marktplatz gelegenen Rathaus. Was vor allem an dem berühmten Musicalfilm Tschitty Tschitty Bäng Bäng lag, den James-Bond-Produzent Albert Broccoli hier Anfang der 1960er Jahre gedreht hatte. Wenn es um alte Filme ging, machte niemand Purdy etwas vor. Und als Millycent und er ein paar Minuten später am Kriminalmuseum vorbeimarschierten, war Purdy völlig entzückt, den Pferdewagen des Kinderfängers, der in dem Film eine wichtige Rolle spielte, davor stehen zu sehen.
Millycent, die weder beeindruckt noch sonderlich interessiert war, verdrehte die Augen. Ein Faible für uralte Musicalfilme ging ihr völlig ab. Allein der Gedanke an diesen Kitsch
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