Das Frankenstein-Projekt (German Edition)
einknickte. Doch er fing sich gleich wieder und ließ nicht zu, dass Talbot ihn anfasste.
»Hör zu«, sagte Talbot. »Ich weiß, das ist jetzt schwer für dich, aber wir können nichts mehr für sie tun. Wir müssen dringend von hier verschwinden. Ich kann dich nicht zurücklassen, weißt du? Es ist jemand im Haus. Womöglich derjenige, der das getan hat. Gibt es hier oben irgendeinen Ausgang?«
Sekundenlang starrte Adrian wie betäubt vor sich hin. Dann schien er schlagartig aus seiner Lethargie zu erwachen. Blinzelnd schüttelte er den Kopf. »Nein, nur die Fenster.«
Talbot überlegte, ob sie es wagen sollten. In Gedanken ging er die Schritte durch, die dafür nötig waren: Zwei, drei Sekunden, um zum Dachfenster zu gelangen. Es zu öffnen, würde weitere drei Sekunden in Anspruch nehmen und Krach machen. Den Jungen hinaus aufs Dach zu heben, bedurfte weiterer vier Sekunden. Selbst hinterherzuklettern und es von außen zu verschließen – weitere sechs Sekunden.
Nach Adam Riese gut 16 Sekunden – dummerweise hatten sie die nicht mehr.
Die Schritte kamen immer näher.
Die Treppe knarrte vernehmlich.
Plötzlich hatte Adrian die rettende Idee. »Da rein!«, flüsterte er. Er deutete auf ein hüfthohes, in die Wandschräge eingebautes Bücherregal. Zumindest sah es auf den ersten Blick aus wie ein gewöhnliches Bücherregal. Er schob eines der Bücher beiseite, zog an einem verborgenen Griff und zu Talbots größtem Erstaunen schwang das vermeintliche Regal wie eine Tür auf.
Im ersten Stock war ebenfalls niemand. Nahezu lautlos schlich Millycent von Zimmer zu Zimmer. Linker Hand befand sich eine kleine Abstellkammer mit Regalen, in denen sich Reinigungsmittel, Putzlappen und Staubsaugerbeutel stapelten. Ein Bügelbrett lehnte an der Wand, dahinter ein alter Tapeziertisch. Den Großteil des Raums nahm ein uralter Vorwerk-Staubsauger ein, der schon 1000 Jahre auf dem Buckel haben mochte. Neben der Kammer lagen ein geräumiges Bad und ein Schlafzimmer. Am Ende des Korridors – ja, und das war erstaunlich – gab es ein Kinderzimmer. Erstaunlich deshalb, weil ihren Informationen zufolge die Hausbesitzerin alleinstehend und kinderlos war. An den Wänden hingen Poster, auf denen sich Lady Gaga, Lily Allen und Katy Perry um die Wette räkelten. Ein offensichtlich erst kürzlich aufgehängtes Poster in Sepiafarben zeigte Robert Downey jr. und Jude Law als Sherlock Holmes und Doktor Watson. Überall sonst waren Regale angebracht, die vor Büchern schier überquollen. Das Bett stand unter dem Fenster und war ordentlich gemacht. Auf dem Fußboden davor lag ein Fotoalbum.
Als Millycent jeden Raum inspiziert hatte, wandte sie sich wieder dem Korridor zu, wo eine weitere Holztreppe in die zweite Etage bis unter das Dach hinaufführte. Das Geräusch, das sie gehört hatte, mochte von dort gekommen sein. Jetzt war dagegen alles still.
Der zum Büro ausgebaute Dachboden glich einer Rumpelkammer und sah nicht so aus, als würde er häufig genutzt. Rechts und links befanden sich hüfthohe Bücherregale. Die meisten enthielten billige Taschenbücher in deutscher Sprache. Das Zimmer war wesentlich heller als die unteren Räume, denn zwei große Veluxfenster sorgten für genügend Licht. Beide waren geschlossen. An der Stirnseite stand ein einfacher Schreibtisch. Darauf und darunter stapelten sich Aktenordner, bunte Pappschachteln und Umzugskartons, die noch mehr Ordner und, so sah es aus, Fachzeitschriften für Lehrer enthielten.
Hier oben war keine Menschenseele. Millycent sah sich noch einmal kurz um. Der Raum lud nicht zum Verweilen ein, die Luft war schwer vom Geruch nach bedrucktem Papier: abgestanden, heiß und stickig.
»Nein, hier ist auch nichts!«, rief Millycent in der geöffneten Tür stehend nach unten und hätte sich im selben Moment für ihr unprofessionelles Verhalten am liebsten die Zunge abgebissen.
Ihr Ratcatcher blinkte auf.
Purdy schien Hilfe zu benötigen.
In ihrem Versteck konnten Adrian und Talbot nichts sehen. Aber nur Sekunden, nachdem sie die verborgene Tür des geheimen Verschlags hinter sich geschlossen hatten, hörten sie, wie jemand den Raum betrat. Sie wagten kaum zu atmen. Nach einer Weile rief eine Frauenstimme: »Nein, hier ist auch nichts!« Dann wurde die Tür geschlossen und auf der Treppe entfernten sich die Schritte.
Trotzdem blieben sie noch eine Weile in der Dunkelheit des Verschlags sitzen, dann endlich trauten sie sich hinaus. Adrian sah zu, wie Talbot an die
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