Das Frankenstein-Projekt (German Edition)
eine Zigarre hervorzog und sie in weltmännischer Manier entzündete. Den Rauch blies er in Rains’ Richtung und machte ihn dadurch für Sekunden sichtbar.
»Hören Sie auf damit!« Rains fuchtelte die Rauchschwaden fort und rannte zur Haustür. Der Mann, der eben das Haus verlassen hatte, war einer von Darwin Nights Mitarbeitern gewesen! Die Erwähnung von Mr McGuffin hatte ausgereicht, Rains davon zu überzeugen. Hätte der Mann sich umgedreht, er hätte hinter der Scheibe die schwachen Umrisse eines Gesichts in den Rauchschwaden gesehen. Doch jetzt war außer ihnen niemand mehr im Haus – es war ganz und gar verlassen. Die völlige Abwesenheit von menschlichem Leben war fast körperlich zu spüren.
Wären sie nur ein paar Stunden früher da gewesen, hätten sie die Lieferung des Koffers wenigstens beobachten können. Aber nein, sie hatten ja erst noch zu einer Beerdigung fahren müssen. Denn eins war sicher: Wenn der Koffer hier gewesen war, hatten Nights Mitarbeiter ihn gefunden.
Rains hatte es endgültig satt, ständig Fehlschläge zu erleben. Tag für Tag. Jahr für Jahr. Sie reihten sich aneinander wie Perlen auf einer endlosen Schnur. Tatsächlich war sein Leben seit dem Experiment vor über 30 Jahren langsam, aber stetig den Bach runtergegangen. Und jeder Versuch, etwas daran zu ändern, hatte unweigerlich in einem Desaster geendet. Seine Braut hatte ihn verlassen, seine Freunde hatten sich nach und nach von ihm abgewandt, und selbst der Igel, der in seinem Garten regelmäßig überwinterte, hatte sich ein anderes Quartier gesucht. Nichts, gar nichts war ihm mehr geblieben, und alles nur wegen der verfluchten Unsichtbarkeit! Wäre da nicht ein Fünkchen Hoffnung gewesen, jetzt diese Papiere in die Finger zu kriegen und mit der darin beschriebenen Technologie einen neuen, sichtbaren Körper zu bekommen, er würde in letzter Zeit weitaus öfter mit dem verlockenden Gedanken an einen erlösenden Sprung vom Eiffelturm gespielt haben.
Rains stand noch immer an der Tür und sah in den Vorgarten hinaus, als er Renfield rufen hörte.
»Monsieur! Monsieur!«
»Verdammt noch mal, was soll das unsägliche Geschrei?«
»Das Telefon, Monsieur! Das Telefon!« Renfield deutete so theatralisch mit beiden Händen darauf, als sei es aus purem Gold.
»Toll, Renfield. Ein Telefon.« Rains Stimme, die über den Flur ins Wohnzimmer schwebte und irgendwo hinter ihm erklang, triefte vor Sarkasmus. »Hat es geklingelt?«
»Das ist nicht der Punkt, Monsieur.« Renfield zog an der Zigarre und blies den Rauch in Rains’ Richtung, um das verdutzte Gesicht seines Chefs in aller Deutlichkeit sehen zu können. »Sie haben es benutzt! Sie haben es benutzt!«
»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Warum sagen Sie alles zweimal?« Rains hustete. »Außerdem, was soll das heißen? Dafür ist es doch wohl da.«
Renfield, der die Vorgehensweise der Agency genau wie sein Chef aufgrund langjähriger Studien in- und auswendig kannte, hob den Telefonhörer ab, schnüffelte einmal daran und hielt ihn dann ungefähr dorthin, wo er Rains’ Nase vermutete. Wie durch ein Wunder brach er sie ihm nicht. »Hier, riechen Sie mal.«
»Was soll der Quatsch? Nehmen Sie das verdammte Ding aus meinem Gesicht! Sehe ich etwa aus wie ein Trüffelschwein?«
»Mit Verlaub, Monsieur, Sie sehen nach gar nichts aus.«
»Lassen Sie die blöden Witze!« Ein Räuspern verriet, dass Rains sich um Fassung bemühte. »Also schön, was ist damit?«
»Er riecht nach überhaupt nichts«, erklärte Renfield.
»Ah!« Rains dämmerte es endlich. »Sie meinen, man hat den Hörer gesäubert.«
»Und zwar sehr, sehr gründlich, Monsieur. Und dafür kann es nur einen Grund geben: Es bedeutet, sie haben von hier aus telefoniert. Wollen mal sehen, wen die Agency angerufen hat.« Renfield drückte die Wahlwiederholung und stellte den Lautsprecher an. Nach einer Weile meldete sich ein Anrufbeantworter: » Guten Tag, Sie sind mit dem Hotel ›Zum wilden Eber‹ verbunden. Leider ist unsere Rezeption vorübergehend nicht besetzt … « Renfield legte auf. »Vorwahl von Ingolstadt«, sagte er und grinste.
Auch die übrigen Telefonate auf der Liste ging er durch. Die letzten neun Nummern gehörten Hotels. Damit war klar, dass die Agenten der Agency nach einem ganz bestimmten Hotel gesucht hatten. Und mit dem Wilden Eber mussten sie es gefunden haben, denn es war das letzte auf der Liste. Renfield zog sein Smartphone aus der Tasche und suchte im Internet die Adresse des
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