Das Frankenstein-Projekt (German Edition)
dem Jungen ebenfalls etwas antun. Vielleicht noch nicht gleich. Aber er wird es tun, das ist sicher. Denn der Mann, den Sie als Larry Talbot kennen, ist sehr krank. Wenn Sie also wissen, wo er sich aufhält und uns dennoch nichts sagen, haben Sie den Jungen am Ende auf dem Gewissen. Können Sie damit wirklich leben, Frau Mertens?«
Oh Gott, nein, das konnte sie nicht, beim besten Willen nicht, auch wenn sie ihm versprochen hatte, nichts zu verraten. Das, was ihr die Beamten erzählt hatten, änderte einfach alles. Sie konnte nicht länger schweigen. Sie musste ihnen sagen, was sie wusste. Was war schon ein Versprechen wert, wenn es um ein Menschenleben ging?
Die Frau sah aus wie ein Häufchen Elend, fand Millycent. Sie tat ihr leid, aber sie musste ihre Rolle als deutsche Polizistin jetzt weiterspielen, sie durfte keinesfalls nachgeben. Dass Sarah Mertens wusste, wohin Talbot und der Junge gefahren waren, das sagte ihr der Instinkt. Und die junge Frau stand kurz davor, es ihnen zu verraten. Sie blickte auf ihre Hände, dann hob sie den Kopf und schaute Millycent direkt ins Gesicht. In ihren Augen standen Tränen.
»Sind Sie auch ganz sicher, was Mr Talbot angeht?« Sarah hob das Kinn und sah Millycent flehentlich an. »Ich kann das alles einfach nicht glauben.«
Purdy, den die Jahre als Agent nicht härter, sondern eher weicher gemacht hatten, ließ die Maske des strengen deutschen Polizisten, den er spielte, für einen Augenblick fallen. Er sah kurz zu den beiden Agenten hinüber, die Night als Verstärkung geschickt hatte und die ebenfalls deutsche Polizeiuniformen trugen. Sie waren nach wie vor damit beschäftigt, jeden Fussel im Zimmer umzudrehen. Er senkte die Stimme und erklärte: »Hören Sie, Frau Mertens. Larry Talbot war einmal ein Kollege von mir. Wenn er nichts mit dem Mord zu tun hat, hat er auch nichts zu befürchten.«
»Ein Polizist wie Sie?« Erstaunt blinzelte Sarah die Tränen fort.
»Ganz recht.«
»Aber Sie sagten doch, er sei ein Mörder.«
Purdy hob beide Hände. »Mal ganz unter uns, ich glaube das nicht. Aber wir müssen der Spur nachgehen. Sollte Larry unschuldig sein, werden wir das ohne jeden Zweifel herausfinden und ihn rehabilitieren. Also machen Sie sich bitte keine allzu großen Sorgen um ihn.«
»Kommen Sie. Sagen Sie uns, was Sie wissen«, fügte Millycent in sanftem Ton hinzu. Sie konnte förmlich spüren, wie Sarah Mertens Wille brach, als die junge Frau die Augen niederschlug und dann mit leiser, resignierter Stimme sagte: »Sie … sie wollten in die Schweiz.«
»Tatsächlich? Und wissen Sie auch, wohin?«, fragte Millycent.
Sarah nickte zaghaft. »Zu einer alten Villa, die wohl mal einem Lord Byron oder so gehört hat. Irgendwo am Genfer See, das habe ich zufällig mitbekommen.«
Millycent warf Purdy einen raschen triumphierenden Blick zu. Lord Byrons Villa am Genfer See, dachte sie, davon hatte sie schon mal gehört. Dummerweise fiel ihr der Name des Anwesens nicht mehr ein. Aber den herauszufinden, konnte ja nicht so schwierig sein.
»Das kann nur die Villa Diodati sein«, sagte Purdy wie aus der Pistole geschossen. »Der berühmte Landsitz, auf dem Mary Shelley ihren Frankenstein geschrieben hat.«
»Ja«, sagte Sarah. »Diodati. Genauso hat sie geheißen.«
»Sie haben meinen Respekt, Herr Kommissar«, meinte Millycent. »Da hat aber einer gut im Englischunterricht aufgepasst.«
»Keine Spur«, sagte Purdy und grinste breit. »Aber ich kenne den Film Frankensteins Braut von 1931. Mit Elsa Lanchester als Mary Shelley und Gavin Gordon als Lord Byron.« Dem versierten Kinofreak war bei der Erwähnung Byrons natürlich sofort die in der Villa Diodati spielende Eröffnungsszene des verstaubten Horrorklassikers eingefallen. »Colin Clive als Dr. Frankenstein und Boris Karloff als das Monster.« Einmal in Fahrt, war Purdy kaum noch zu bremsen.
Millycent war beeindruckt. Offensichtlich brachte es doch etwas, seine wenige Freizeit mit langweiligen, uralten Filmschinken zu verbringen, die heutzutage kein Mensch mehr kannte. Mochte es sein, wie es wollte – Talbot zu schnappen war jetzt nur noch eine Frage der Zeit. Mit etwas Glück waren sie vielleicht noch vor ihm dort.
Adrian saß am Feuer, hatte die Knie bis fast unter das Kinn hochgezogen und blinzelte müde in die Flammen, als Talbot zum Lagerplatz zurückkam. Er trat neben ihn und legte ihm eine weitere Decke um die Schultern.
Adrian sah zu Talbot hoch und bedankte sich mit einem Nicken. »Was sind das
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