Das Frankenstein-Projekt (German Edition)
Glaubte man dem Computer, hatten sie bis Cologny noch circa eine Stunde Fahrt vor sich.
»Du weißt, weshalb er aus dem Dienst ausgeschieden ist?«
»Ich habe nur einige Gerüchte gehört, nichts weiter.«
»Über die Lycanthropie?«
Sie nickte. »Allerdings hielt ich das Gerede über diese Wolfskrankheit immer für ausgemachten Blödsinn.«
»Das meiste davon wird stimmen«, sagte Purdy. »Talbot ist unberechenbar. Außerdem ist er nicht ungefährlich.«
»Was meinst du damit, er ist ›nicht ungefährlich‹?«
»So wie ich es sage.« Purdy wollte es damit am liebsten auf sich beruhen lassen, doch Millycent hatte Blut geleckt.
»Was?«, fragte sie und tippte sich mit den Fingern der rechten Hand an die Stirn. »Meinst du, er ist verrückt? Und ist er gefährlich, weil er sich für einen Wolf hält? Musste er deshalb gehen?«
»Das Problem ist, er hält sich nicht nur für einen Wolf. Wenn der Vollmond scheint, wird er zum Wolf.«
»Aber so was gibt es doch gar nicht. Willst du damit andeuten, dass er sich tatsächlich verwandelt?« Millycent stieß einen kurzen, ungläubigen Lacher aus. »Mit Fell und Klauen und allem, was dazugehört?«
Purdy nickte langsam. »Mit Fell und Klauen und allem, was dazugehört«, bestätigte er. »Es gab da einen unschönen Zwischenfall vor einigen Jahren. Zufällig war ich bei dem Einsatz dabei.«
»Einen Zwischenfall? Was ist passiert?« Millycent sah ihn fragend an. »Nun spann mich nicht lange auf die Folter, Maxwell. Erzähl schon.«
Purdy blies die Wangen auf. Dann sagte er: »Na, schön. Du lässt ja doch nicht locker. Wir hatten einen Einsatz in Burnham Beeches, einem Waldstück westlich von London. Irgend so ein Spinner bedrohte das Land mit einer biologischen Waffe. Er verlangte 20 Millionen Pfund und drohte sie zu zünden, würde das Königshaus nicht zahlen. Talbot, Carruthers und ich waren darauf angesetzt.«
» Du kennst Abraham Carruthers?« Millycent war beeindruckt. In Geheimdienstkreisen galt der Mann als lebende Legende. Millycent hatte Darwin Nights Vortrag über Abraham Carruthers und die elektrischen Skelette freiwillig ganze fünf Mal besucht. Seine technischen Spielereien waren Meisterwerke der Feinmechanik. Beinahe unglaublich, aber für die Agency hatte er unter anderem eine ferngesteuerte, mechanische Stubenfliege entwickelt; die sah nicht nur täuschend echt aus und konnte im Flug Videoaufnahmen machen, sie war zudem in der Lage, winzige, als Fliegeneier getarnte Kameraaugen zu legen.
Purdy wiegelte gleich ab: »Na ja, kennen ist vielleicht zu viel gesagt. Ich will es mal so ausdrücken: Ich war in seinem Team und durfte ihn bei den Vorbereitungen für die Operation in Aktion sehen.«
»Erzähl weiter«, sagte Millycent, »mach schon.«
»Wir hatten den Mistkerl mit der Biobombe in Burnham Beeches lokalisiert. Irgendwo in dem Waldstück musste er sein, aber wir hatten keine Ahnung, wo. Also schwärmten wir aus, wobei wir über Funk in Kontakt blieben. Es war lange nach Einbruch der Dunkelheit und der Vollmond brach immer wieder durch die Wolken. Das war vermutlich das Problem. Nach etwa 30 Minuten hörte ich Schreie. Und damit meine ich richtig schlimme Schreie. Es klang, als würde man jemandem bei lebendigem Leib die Gliedmaßen abreißen.« Purdy sog die Luft tief durch die Nasenflügel ein. »Und so ähnlich muss es dann auch gewesen sein. Talbot hatte sich schon eine ganze Weile nicht mehr gemeldet. Nur Carruthers und ich verständigten uns weiterhin über unsere Handys. Als wir bei der Stelle anlangten, von wo die Schreie gekommen waren, fanden wir dort in einer tiefen Mulde den blutüberströmten Körper eines Mannes. Er lebte noch. Aber nicht mehr sehr lange. Und daneben lag Talbot – oder das Tier, das aus ihm wird, wenn der Mond ihn in seinem Bann hat. Er war bewusstlos und verwandelte sich gerade wieder in seine menschliche Gestalt zurück.«
»Was war geschehen?«
Purdy zuckte die Achseln. »Man hat niemals herausgefunden, was wirklich passiert ist. Fest steht, der Mann, ein gewisser Norman Laurie, war mit großer Kraft in Stücke gerissen worden und er wies Verletzungen auf, die mit Talbots Klauen korrespondierten. Obwohl wir damals kein Blut daran gefunden haben.«
»Aha«, sagte Millycent, »verstehe. In dubio pro reo – Im Zweifel für den Angeklagten.«
»Auch wenn wir ihm nichts nachweisen konnten, Milly – ein Haufen Leute in der Agency hielt ihn danach für eine tickende Zeitbombe. Fakt war, der Zivilist war
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