Das fremde Gesicht
losen Kittel am wohlsten. Sie vermied es, persönlich ins Rampenlicht zu geraten, aber ihr Werk als Bildhauerin war in Kunstkreisen bekannt, insbesondere wegen ihrer unnachahmlichen Fähigkeit, Gesichter zu formen. Die Feinfühligkeit, mit der sie verborgenen Eigenheiten Ausdruck verlieh, war das Kennzeichen ihrer Begabung.
Vor langer Zeit hatte sie einen Entschluß gefaßt und sich daran gehalten, ohne es je zu bereuen. Ihr Lebensstil war ihr gerade recht. Doch jetzt …
Sie hätte nicht voraussetzen sollen, daß Annie es verstehen würde. Sie hätte Wort halten und ihr nichts sagen sollen. Annie hatte mit weit aufgerissenen, schockierten Augen der gequälten Erklärung zugehört.
Dann war sie durchs Zimmer gelaufen und hatte absichtlich das Gestell mit der Bronzebüste umgeworfen.
Auf Frances’ entsetzten Schrei hin war Annie aus dem Haus gestürmt, in ihr Auto gesprungen und weggefahren.
An jenem Abend hatte Frances versucht, ihre Tochter in ihrer Wohnung in San Diego anzurufen. Der Anrufbeantworter war angestellt. Jeden Tag der letzten Woche hatte sie angerufen und immer nur den Apparat erreicht. Es würde Annie nur zu ähnlich sehen, auf unbegrenzte Zeit zu verschwinden. Im Jahr zuvor war sie, nachdem sie ihre Verlobung mit Greg aufgelöst hatte, nach Australien geflogen und dort sechs Monate lang mit dem Rucksack unterwegs gewesen.
Mit Fingern, die unfähig schienen, den Signalen ihres Gehirns zu gehorchen, nahm Frances wieder die Ausbesserungsarbeit an der Büste auf, die sie von Annies Vater modelliert hatte.
Von dem Moment an, als sie Dr. Mannings Sprechzimmer um zwei Uhr am Dienstag nachmittag betrat, konnte Meghan den Unterschied in seiner Haltung spüren. Am Sonntag, bei ihrem Fernsehbericht über die Zusammenkunft, war er mitteilsam und voller Initiative gewesen, stolz, die Kinder und die Klinik vorzuführen.
Gestern am Telefon, als sie den Termin ausmachte, war er verhalten begeistert gewesen. Heute sah man ihm seine siebzig Jahre wirklich an. Die gesunde rosa Gesichtsfarbe, die sie zuvor bemerkt hatte, war nun einer grauen Blässe gewichen. Die Hand, die er ihr hinstreckte, zitterte ein wenig.
Heute morgen hatte Mac, bevor er nach Westport aufbrach, darauf bestanden, daß sie im Krankenhaus anrief und sich nach ihrer Mutter erkundigte. Man teilte ihr mit, Mrs.
Collins schlafe gerade, ihr Blutdruck habe sich zufriedenstellend gebessert und liege jetzt im oberen Normalbereich.
Mac. Was hatte sie in seinen Augen gesehen, als er sich verabschiedete? Er hatte ihre Wange mit dem üblichen leichten Kuß gestreift, aber seine Augen vermittelten eine andere Botschaft. Mitleid? Sie wollte keins.
Sie hatte sich ein paar Stunden hingelegt und wenn auch nicht geschlafen, so doch wenigstens gedöst, um das bleierne Gefühl auf ihren Augen und die Benommenheit etwas abzustreifen. Dann hatte sie sich geduscht, lang und heiß geduscht, wodurch der Schmerz in ihrem Schulterbereich ein wenig nachließ. Sie hatte ein dunkelgrünes Kostüm mit einer taillierten Jacke und einem dreiviertellangen Rock angezogen. Sie wollte so gut wie möglich aussehen. Ihr war aufgefallen, wie gut die Erwachsenen bei dem Treffen in der Manning Clinic gekleidet waren, doch dann hatte sie sich überlegt, daß Leute, die sich einen Betrag von irgendwo zwischen zehn-und zwanzigtausend Dollar für den Versuch, ein Kind zu bekommen, leisten konnten, über reichlich Einkommen verfügten.
In der Kanzlei an der Park Avenue, wo sie ursprünglich eine juristische Laufbahn eingeschlagen hatte, galt die Regel, daß legere Kleidung nicht zulässig war. Als Funk-und jetzt Fernsehreporterin hatte Meghan die Beobachtung gemacht, daß Interviewpartner unwillkürlich mitteilsamer waren, wenn sie sich mit dem Fragesteller in gewisser Weise identifizieren konnten.
Sie wollte, daß Dr. Manning mit ihr instinktiv wie mit einer angehenden Klientin umgehen und sprechen würde.
Als sie jetzt vor ihm stand und ihn musterte, wurde ihr bewußt, daß er sie ansah wie ein überführter Verbrecher den Richter bei der Urteilsverkündung. Furcht war die Empfindung, die von ihm ausging. Doch weshalb sollte Dr. Manning sich vor ihr fürchten?
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich darauf freue, diese Sondersendung zu machen«, erklärte sie, während sie ihm gegenüber am Schreibtisch Platz nahm.
»Ich –«
Er unterbrach sie. »Miss Collins, ich fürchte, wir können an keinerlei Fernsehberichten mitwirken. Meine Mitarbeiter und ich hatten
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