Das fremde Gesicht
einem Weg gewesen, wie er aus seinen beiden Existenzen aussteigen konnte?
Und wo war Annie? fragte sich Frances voller Qual und mit einem wachsenden Gefühl drohender Vorahnung.
Edwin hatte einen Anrufbeantworter in seinem Büro. Im Lauf der Jahre galt die Übereinkunft, daß Frances, wenn sie ihn erreichen mußte, zwischen Mitternacht und fünf Uhr früh lokaler Zeit an der Ostküste anrufen würde. Er hörte eventuelle Mitteilungen immer per Fernabruf bis sechs Uhr ab und löschte sie anschließend.
Natürlich war der Anschluß inzwischen unterbrochen.
Oder vielleicht doch nicht?
Es war wenige Minuten nach zehn in Arizona, nach Mitternacht an der Ostküste.
Sie nahm den Hörer und wählte. Nach zwei Klingelzeichen begann Eds Ansage zu laufen. »Sie haben die Nummer 203-555-2867 erreicht. Bitte hinterlassen Sie eine kurze Mitteilung nach dem Pfeifton.«
Frances geriet durch den Klang seiner Stimme so aus der Fassung, daß sie beinahe vergaß, warum sie eigentlich anrief. Konnte das vielleicht heißen, daß er noch lebte?
fragte sie sich. Und falls Ed irgendwo am Leben ist, hört er dann je seinen Anrufbeantworter ab?
Sie hatte nichts zu verlieren. Hastig hinterließ Frances die Botschaft, die sie vereinbart hatten. »Mr. Collins, rufen Sie bitte Palomino Lederwaren zurück. Wenn Sie noch an der Aktentasche interessiert sind, wir haben sie vorrätig.«
Victor Orsini war in Edwin Collins’ Büro, als das private Telefon klingelte. Er schrak zusammen. Wer zum Teufel rief zu dieser Nachtzeit in einem Büro an? Der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Orsini lauschte von Collins’ Stuhl aus der klangvollen Stimme, wie sie die kurze Nachricht hinterließ.
Als der Anruf beendet war, saß Orsini lange da und starrte auf das Gerät. Man macht keine Geschäftsanrufe wegen einer Aktentasche zu so einer Zeit, dachte er. Das ist irgendein Code. Jemand nimmt an, daß Ed Collins diese Nachricht erhält. Es war eine weitere Bestätigung, daß irgendeine mysteriöse Person daran glaubte, daß Ed am Leben war und sich irgendwo aufhielt.
Einige Minuten später ging Victor. Er hatte nicht gefunden, wonach er gesucht hatte.
42
Am Sonntag morgen war Catherine Collins zur Zehn-Uhr-Messe in St. Paul’s, doch sie stellte fest, daß es schwierig war, mit den Gedanken bei der Predigt zu bleiben. In dieser Kirche war sie getauft worden, hatte sie geheiratet, und von hier aus hatte sie ihre Eltern beerdigt. Hier hatte sie immer Trost gefunden. Wieder und wieder hatte sie während der Messe gebetet, Edwins Leiche möge gefunden werden, hatte gebetet, sie möge fähig sein, seinen Verlust hinzunehmen, und die Kraft finden, ohne ihn weiterzumachen.
Worum bat sie Gott jetzt? Nur, daß er Meg schützen möge. Sie warf einen Blick auf Meg, die neben ihr saß, absolut still und, wie es schien, auf die Kanzelrede konzentriert, doch Catherine vermutete, daß die Gedanken ihrer Tochter ebenfalls weit weg waren.
Ein Fragment aus dem Dies irae kam Catherine unwillkürlich in den Sinn. »Tag des Zornes, Tag der Zähren, wirst die Welt durch Brand zerstören.«
Ich bin zornig, und ich bin verletzt, und meine Welt liegt in Asche, dachte Catherine. Sie blinzelte, um plötzliche Tränen zurückzuhalten, und spürte, wie Megs Hand sich über ihrer schloß.
Als sie aus der Kirche kamen, gingen sie noch in die Bäckerei am Ort, wo sie an einem der Tische im hinteren Teil des Ladens Kaffee und süße Brötchen zu sich nahmen.
»Geht’s dir wieder besser?« fragte Meg.
»Ja«, sagte Catherine energisch. »Diese klebrigen Dinger helfen einfach immer. Ich geh’ mit dir in Dads Büro.«
»Wir hatten uns doch geeinigt, daß ich dort ausräume.
Deswegen sind wir in zwei Autos gekommen.«
»Für dich ist es nicht leichter als für mich. Es geht schneller, wenn wir zusammen sind, und das Zeug ist zum Teil schwer zu tragen.«
Der Tonfall ihrer Mutter hatte etwas typisch Endgültiges an sich, das, wie Meghan wußte, jede weitere Debatte ausschloß.
Meghans Wagen war mit Kisten zum Einpacken beladen.
Sie und ihre Mutter trugen sie ins Gebäude. Als sie die Tür zu den Räumen von Collins and Carter öffneten, stellten sie überrascht fest, daß es dort warm und beleuchtet war.
»Zehn zu eins, daß Phillip vorhin hier war, um die Heizung anzustellen«, bemerkte Catherine. Sie sah sich im Empfangsraum um. »Es ist erstaunlich, wie selten ich hier war«, sagte sie. »Dein Dad war so viel unterwegs, und selbst wenn er nicht auf Reisen war, dann
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