Das fremde Gesicht
hatte er doch meistens Außentermine. Und dann war ich ja ständig an den Gasthof gebunden.«
»Ich war wahrscheinlich öfter hier als du«, bestätigte Meg. »Ich bin immer mal wieder nach der Schule hier vorbeigekommen und dann mit ihm heimgefahren.«
Sie stieß die Tür zum Büro ihres Vaters auf. »Es ist noch genauso, wie er’s zurückgelassen hat«, sagte sie zu ihrer Mutter. »Es war schrecklich großzügig von Phillip, daß er es so lange unberührt gelassen hat. Ich weiß, eigentlich hätte es Victor benutzen sollen.«
Für einen langen Moment betrachteten sie beide den Raum: Edwins Schreibtisch, den langen Tisch dahinter mit den Bildern von ihnen, das Wandelement mit Bücherregalen und Aktenschränken in der gleichen Kirschbaumholzausführung wie der Schreibtisch. Der Raum machte einen klaren und geschmackvollen Eindruck.
»Edwin hat diesen Schreibtisch gekauft und selbst wieder hergerichtet«, sagte Catherine. »Phillip würde es bestimmt nichts ausmachen, wenn wir ihn abholen lassen.«
»Bestimmt nicht.«
Sie begannen damit, die Bilder einzusammeln und in einer Kiste zu stapeln. Meghan war bewußt, daß sie beide spürten, je schneller der Raum ein unpersönliches Aussehen annahm, um so leichter würde es sein. Dann schlug sie vor: »Mom, warum fängst du nicht mit den Büchern an. Ich geh’ den Schreibtisch und die Akten durch.«
Erst, als sie am Schreibtisch saß, entdeckte sie das Blinklicht des Anrufbeantworters, der auf einem niedrigen Tisch neben dem Drehstuhl stand.
»Du, schau mal her!«
Ihre Mutter kam zum Schreibtisch herüber. »Hinterläßt da noch jemand Nachrichten auf Dads Apparat?« fragte sie ungläubig, beugte sich dann tiefer, um auf den Anrufzähler zu schauen. »Ist nur eine drauf. Hören wir’s uns an.«
Verblüfft lauschten sie der Mitteilung und dann der automatischen Stimme des Apparats, wie sie verkündete:
»Sonntag, einunddreißigster Oktober, null Uhr und neun Minuten. Ende der letzten Nachricht.«
»Diese Nachricht ist ja erst vor ein paar Stunden reingekommen!« rief Catherine aus. »Wer ruft denn mitten in der Nacht geschäftlich an? Und wann soll Dad denn eine Aktentasche bestellt haben?«
»Es könnte ein Versehen sein«, sagte Meghan. »Wer immer das war, hat keine Telefonnummer und keinen Namen hinterlassen.«
»Aber würden nicht die meisten Verkäufer eine Nummer angeben, wenn es darum geht, eine Bestellung zu bestätigen, besonders, wenn sie schon Monate zurückliegt? Meg, die Nachricht ergibt keinen Sinn. Und diese Frau kommt mir nicht gerade wie eine kaufmännische Angestellte vor.«
Meg nahm die Kassette aus dem Apparat und steckte sie in ihre Umhängetasche. »Es gibt keinen Sinn«, pflichtete sie bei. »Wir vertun bloß Zeit damit, wenn wir hier versuchen, das rauszukriegen. Laß uns mit dem Einpacken weitermachen und das Band zu Hause noch mal abhören.«
Sie schaute schnell die Schreibtischschubladen durch und fand den üblichen Vorrat an Briefpapier, Notizblöcken, Büroklammern, Stiften und Markern. Ihr fiel wieder ein, daß ihr Vater bei der Durchsicht des Lebenslaufs eines Kandidaten die günstigsten Gesichtspunkte mit Gelb und die ungünstigsten mit Rosa markierte. Rasch verstaute sie den gesamten Inhalt des Schreibtischs in Kisten.
Als nächstes machte sie sich an die Akten. Der erste Ordner schien Kopien der Kostenabrechnungen ihres Vaters zu enthalten. Offenbar behielt die Buchhalterin das Original und gab eine Kopie mit dem Stempel Bezahlt zurück.
»Ich nehme diese Akten mit nach Hause«, sagte sie.
»Das sind Dads persönliche Kopien von Originalunterlagen der Firma.«
»Hat es denn überhaupt einen Sinn, das mitzunehmen?«
»Ja, es könnte sich doch ein Hinweis auf diese Palomino Lederwaren finden.«
Sie füllten gerade die letzte Kiste, als sie hörten, wie die Außentür aufging. »Ich bin’s«, rief Phillip.
Er kam herein, das Hemd am Kragen offen, dazu eine Weste, Cordjacke und lange Hosen. »Hoffentlich war’s angenehm hier, als ihr gekommen seid«, sagte er. »Ich hab’ heute früh kurz reingeschaut. Hier wird’s arg kühl übers Wochenende, wenn der Thermostat runtergestellt ist.«
Er musterte die Kisten. »Ich wußte, daß ihr Hilfe braucht. Catherine, stell bitte diese Bücherkiste ab.«
»Dad hat sie doch ›mächtige Maus‹ genannt«, sagte Meg.
»Das ist nett von dir, Phillip.«
Er sah das Deckblatt einer Abrechnungsakte aus einer der Kisten herausragen. »Seid ihr sicher, daß ihr all den Kram
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