Das fremde Haus
die Muskeln aufzubauen, ohne irgendwann auszusehen wie irgendeine Action-Comicfigur mit harten Ausbeulungen an den Armen. Ich höre nicht zu, aber glücklicherweise ist seine Antwort lang und detailliert, was mich davor bewahrt, mit den anderen reden zu müssen. Am anderen Ende des Wohnzimmers streiten sich mein Vater und Fran darüber, ob ein Mensch, der in die Stadt zieht, damit seine Bereitschaft signalisiert, sich regelmäßig überfallen und verprügeln zu lassen, und Benji wirft Plastikfiguren in die Luft.
Meine Mutter und Kit arrangieren gemeinsam meine Geschenke zu einem Stapel auf dem Fußboden – ein weiteres Familienritual der Monks, das bei sämtlichen geschenkwürdigen Anlässen vollzogen wird. Jeder zieht ein Geschenk aus dem Stapel und überreicht es dem Empfänger. Das muss in aufsteigender Altersreihenfolge geschehen, also Benji, Fran, ich, Anton, Kit, Mutter, Vater und dann wieder Benji, falls noch Päckchen übrig sind. Das System hat so seine Macken: Wenn ich an meinem Geburtstag an der Reihe bin, ein Geschenk auszusuchen, überreiche ich es mir selbst. Mein Vater leistet seit Jahren Lobbyarbeit, um eine Veränderung durchzusetzen. Wenn der Anlass ein Geburtstag ist und nicht Weihnachten, soll das Geburtstagskind nicht am Aussuchen und Geschenküberreichen beteiligt werden. Meine Mutter ist strikt gegen eine derartige Reform, und bislang ist es ihr gelungen, sie zu blockieren.
Das ganze Theater erweckt in mir den Wunsch, mir in den Kopf zu schießen.
Dieses Jahr hat Benji mir ein Lavendelsäckchen in Herzform gekauft. Ich knuddle ihn zum Dank, und er versucht, sich mir zu entwinden. »Wenn Leute sterben, weil sie hundert sind, hört ihr Herz auf zu schlagen«, sagt er. »Stimmt doch, oder, Papa?«
Von meinen Eltern bekomme ich das, was ich immer bekomme, seit ich eine eigene Wohnung habe, ob nun zum Geburtstag, zu Ostern oder zu Weihnachten, ebenso wie Fran, Kit und Anton – einen Monks & Söhne-Gutschein für 100 Pfund. Ich setze ein Lächeln auf, küsse beide und täusche Dankbarkeit vor.
Kits Eltern waren gut mit Geschenken. Vermutlich sind sie das noch immer, auch wenn sie keine mehr für uns kaufen. Ich fand die Dinge immer wunderbar, die ich von ihnen bekam: Wellness-Gutscheine, Opernkarten, Mitgliedschaften in Schokoladen- und Wein-Clubs. Kit war nie sonderlich beeindruckt. »Jeder kann so etwas kaufen«, erklärte er. »Das sind Geschenke für Firmenkunden, von Leuten mit viel Geld, denen der Empfänger egal ist.« Ich hatte nie den Eindruck, dass er seine Eltern sonderlich gernhatte, auch nicht, bevor er den Kontakt zu ihnen abbrach. Ich konnte das nie verstehen. »Ich würde alles darum geben, Eltern zu haben, die normale, interessante Menschen sind«, sagte ich zu ihm. Es beeindruckte mich, dass Nigel und Barbara Bowskill, die in Bracknell leben, oft nach London fuhren, um ins Theater zu gehen oder eine Ausstellung zu besuchen.
Als Simon Waterhouse von mir wissen wollte, warum Kit den Kontakt zu seinen Eltern abgebrochen hatte, gab ich ihm die Antwort, die Kit mir gegeben hatte: 2003, als ich meinen Miniatur-Nervenzusammenbruch hatte bei der Aussicht darauf, Little Holling verlassen zu sollen, als mir die Haare ausfielen, mein Gesicht gelähmt war und ich mich ständig erbrechen musste, hatte er von seinen Eltern zu hören bekommen, von ihnen könne er weder Hilfe noch Unterstützung erwarten, er müsse mit seinen Problemen alleine fertig werden – sie hätten zu viel mit der Gründung ihrer neuen Firma zu tun.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Nigel oder Barbara solche Rabeneltern waren, aber als ich das zu Kit sagte, herrschte er mich an, ich sei ja nicht dabei gewesen, im Gegensatz zu ihm. Glaub mir, du bist meinen Eltern vollkommen gleichgültig, sagte er, ich ebenfalls, also warum sollten wir noch irgendwas mit ihnen zu tun haben wollen?
Ich dachte eigentlich, dass Simons Frage damit beantwortet sei, aber er wirkte unzufrieden. Er wollte wissen, ob ich dem noch irgendwas hinzufügen könne, ob mir zum Thema Kit und seine Eltern noch etwas einfiele. Ich verneinte. Im Prinzip stimmte das. Was hätte es gebracht zu sagen, dass ich mich immer gefragt hatte, ob Kit irgendeine harmlose Bemerkung von Nigel oder Barbara absichtlich falsch interpretiert oder aufgebläht hatte, um eine Entschuldigung dafür zu haben, sie aus seinem Leben streichen zu können? Wahrscheinlich war es unfair von mir, ihm so etwas zu unterstellen, also erwähnte ich Simon gegenüber nichts
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