Das fremde Haus
Brotkasten. Ich habe den teuersten genommen, als könnte ich damit irgendwas wiedergutmachen. Ich belade ein Tablett mit Tassen, Untertassen und Teelöffeln, gieße Milch ins Milchkännchen und kratze die verfärbten Zuckerkristalle ab, damit meine Mutter nicht zusammenzuckt, wenn sie in die Zuckerdose schaut. Als letztes, aber nicht unwichtigstes Requisit kommt der Plastik-Schnabelbecher mit Apfelsaft auf das Tablett für Benji, den einzigen Fünfjährigen auf der Welt, der immer noch aus einem Babybecher trinkt.
Kit holt saubere Kuchenteller aus der Geschirrspülmaschine. »Morgen werde ich bei meinen Eltern sein«, sage ich. Er hält mir ein großes Sägemesser hin. »Wenn ich drüben bin, wird keiner herkommen. Ich kann ihnen erzählen, dass du zu Hause bist und arbeitest.«
»Das ist doch verrückt, Con. Warum können wir ihnen nicht die Wahrheit sagen? Unser derzeitiges Projekt kommt in eine heiße Phase, ich werde dringend in London gebraucht und habe daher beschlossen, bis auf Weiteres dort zu übernachten.«
Ich nehme ihm das Messer ab. »Das ist nicht die Wahrheit, Kit.«
»Du weißt, was ich meine«, erwidert er ungeduldig, als würde ich Haarspalterei betreiben. »Nicht direkt die Wahrheit, aber … Können wir ihnen nicht irgendwas erzählen, dass der Wahrheit ein bisschen näherkommt, damit wir nicht so tun müssen, als würde ich noch hier wohnen?« Ich kann sehen, wie der Entschluss in ihm reift, noch etwas hinzuzufügen. Ich weiß, was jetzt kommt. »Oder wir machen unsere Lüge wahr, und du lässt mich wieder hier einziehen.«
»Tu das nicht.« Ich schiebe ihn fort und wage nicht, ihn anzusehen, denn ich fürchte, er könnte mir an den Augen ablesen, wie sehr ich ihn vermisse. Er ist am Mittwoch ausgezogen. Die letzten beiden Nächte habe ich wach gelegen und geweint, schlafen konnte ich nicht. Es kostete mich meine ganze Willenskraft, ihn nicht anzurufen und zu bitten, wieder nach Hause zu kommen. Bevor all das geschah, habe ich mich für einen guten Menschen gehalten, aber jetzt weiß ich, dass das nicht stimmt. Es wäre so leicht, einfach zu vergessen, was richtig ist, und zu Kit zu sagen: »Weißt du was? Es ist mir egal, ob du dich hinter meinem Rücken mit einer anderen Frau getroffen hast oder nicht. Es ist mir egal, ob du ein Lügner bist oder sogar ein Mörder – ich werde dich trotzdem lieben und bei dir bleiben, denn die Alternative ist zu zermürbend und zu anstrengend.«
»Wir werden es durchziehen müssen, oder?« Kit schließt die Augen. »Das volle Programm: ›Happy Birthday‹ singen, Geschenke auspacken, Kerzen auspusten, ›For she’s a jolly good fellow‹ anstimmen, Küsse und Umarmungen …« Ich sehe das Schaudern, das ihn durchläuft.
»Natürlich werden wir das. Ist es nicht jedes Jahr so abgelaufen, seit du mich kennst? Meine Familie weiß nicht, dass es dieses Jahr anders ist.«
»Connie, wir haben die Wahl.« Er tritt nahe an mich heran. Ich sollte das nicht zulassen. »Wir können das alles hinter uns lassen, damit es wieder so wird wie früher. Wir stellen uns einfach vor, keiner von uns hätte eine Vergangenheit, und heute wäre der erste Tag unseres Lebens.«
»Dann wären wir nicht miteinander verheiratet. Wir würden uns gar nicht kennen.« Wenn ich mein Herz nicht schnell gegen ihn verhärte, werde ich es vielleicht nie schaffen. »Obwohl das vielleicht vorzuziehen wäre. Im Augenblick sind wir Fremde, die miteinander verheiratet sind.«
»Was treibt ihr zwei denn hier?« Meine Mutter stößt die Küchentür auf, ohne sich die Mühe zu machen, vorher anzuklopfen. »Worüber redet ihr? Hoffentlich nicht immer noch über die Polizei. Das soll doch eine Geburtstagsfeier sein, oder? Geoff hat recht, Kit – du rufst diesen Ian Grint Montag an, und dann wird sich alles schon irgendwie klären, so oder so.«
»Ganz bestimmt«, sagt Kit ausdruckslos.
Irgendwie, so oder so . Wenn Wissenschaftler meine Mutter entführen und durch einen Roboter ersetzen würden, der genauso aussieht wie sie, würde es niemandem auffallen, sie müssten nur dafür sorgen, das Vokabular der Maschine mit ausreichend Phrasen auszustatten: irgendwie, so oder so, jetzt sieh nur, was du angestellt hast, was soll denn das bedeuten?
Ich tue das Einzige, was den Rest dieser sogenannten Feier erträglich gestalten könnte: Ich kehre ins Wohnzimmer zurück und verwickle Anton in ein Gespräch über Fitness. Ich sei es leid, so mager zu sein, behaupte ich und frage, was ich tun könne, um
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