Das fremde Haus
war die Fahrzeit: zwei Stunden und siebzehn Minuten. Dann sah ich die Adresse.«
Sam weiß es. Ich kann ihm vom Gesicht ablesen, dass er es weiß.
»Für Kits Navi war der Heimatort Bentley Grove 11 in Cambridge. Nicht Melrose Cottage in Little Holling, Silsford.« Ich beginne zu weinen, ich kann nicht anders. »Tut mir leid. Ich kann nur nicht … ich kann es nur kaum fassen, dass ich sechs Monate später diese Geschichte erzähle und immer noch keine Ahnung habe, was das zu bedeuten hat.«
»Warum haben Sie mir das nicht schon am Samstag erzählt?«
»Ich dachte, Sie würden mir das mit der Leiche der Frau nicht glauben, wenn ich Ihnen alles erzähle. Wenn Sie erfahren hätten, dass ich schon vorher von diesem Haus besessen war …«
»Waren Sie das?«
Hat es irgendeinen Sinn, es abzustreiten? »Ja. Komplett.«
»Weil Kit diese Adresse als Heimatort in sein Navigationssystem eingegeben hatte?«
Ich nicke.
»Und Sie wollten wissen warum. Haben Sie ihn gefragt?«
»Sobald er zur Tür hereinkam. Er gab vor, nicht zu wissen, wovon ich redete. Er hat es abgestritten, alles geleugnet. Er sagte, er habe überhaupt keine Heimatanschrift gespeichert – nicht unsere und auch keine Straße in Cambridge, von der er nie etwas gehört hätte. Wir hatten einen Riesenkrach – er dauerte Stunden. Ich habe ihm nicht geglaubt.«
»Verständlich«, sagt Sam.
»Er hat das Navigationssystem neu gekauft – wer hätte also eine Adresse einspeichern sollen, wenn nicht er? Als ich das sagte, konterte er: ›Das ist ja wohl offensichtlich, oder? Du musst es getan haben‹. Ich konnte es gar nicht fassen. Warum hätte ich so etwas tun sollen? Und wenn ich es getan hätte, warum hätte ich ihn beschuldigen sollen?«
»Versuchen Sie, sich zu beruhigen, Connie.« Sam tätschelt meinen Arm. »Hätten Sie gern noch etwas zu trinken?«
Ich hätte gern ein anderes Leben – irgendein Leben, nur nicht meins, irgendwelche Probleme, solange es nur nicht die sind, die ich momentan habe.
»Wasser, bitte«, sage ich und wische mir über die Augen. »Könnten Sie darum bitten, das Glas diesmal ganz vollzumachen?«
Er kehrt ein paar Minuten später mit einem großen vollen Glas Wasser zurück. Ich nehme einen Riesenschluck, sodass meine Brust schmerzt.
»Hatten Sie den Verdacht, dass Kit noch eine andere Familie in Cambridge hat?«, fragt Sam.
»Das war das Erste, was mir in den Sinn kam, ja. Bigamie.« Es ist das erste Mal, dass ich das Wort laut ausspreche. Selbst bei Alice umgehe ich es möglichst. »Das klingt melodramatisch, aber es kommt vor, oder? Es gibt wirklich Männer, die in Bigamie leben.«
»Das stimmt«, bestätigt Sam. »Manche Frauen vermutlich auch. Haben Sie mit Kit über Ihren Verdacht gesprochen?«
»Er leugnet es. Er streitet seit sechs Monaten hartnäckig alles ab. Ich habe ihm nicht geglaubt, und das wurde zu einem weiteren Streitpunkt zwischen uns – die Ungleichheit in diesem Punkt. Ich vertraue ihm nicht so sehr, wie er mir vertraut.«
»Er hat Ihnen also geglaubt, als Sie sagten, Sie wären es nicht gewesen?«
»Er hat dann meine Familie bezichtigt – meine Mutter, Fran, Anton. Er erinnerte mich daran, wie oft sein Navigationssystem irgendwo herumlag, wenn sie bei uns zu Hause waren.«
»Wer sind Fran und Anton?«, fragt Sam.
»Meine Schwester und ihr Lebensgefährte.«
»Hat Kit recht? Hätte ein Mitglied Ihrer Familie die Adresse eingeben können?«
»Es wäre möglich, aber sie haben es nicht getan. Ich kenne meine Familie in- und auswendig. Mein Vater hat panische Angst vor aller modernen Elektronik – er weigert sich, die Existenz von iPods und E-Büchern anzuerkennen, sogar DVD-Player sind zu viel für ihn. Er würde nie auch nur in die Nähe eines Navis gehen. Fran und Anton sind dazu weder fantasiebegabt genug noch hinterhältig genug. Meine Mutter kann beides sein, aber … glauben Sie mir, diese Adresse hätte sie nie im Leben in Kits Navi eingegeben.«
Lieber würde sie Feuer schlucken. Ich habe miterlebt, wie sie sich verkrampft und das Thema wechselt, wenn das Gespräch auch nur am Rande etwas streift, das mit Cambridge zu tun hat: die Ruderregatta, Stephan Hawking und seine Theorie der Schwarzen Löcher. Sie schätzt es auch nicht, wenn in meiner Gegenwart Oxford oder irgendwelche anderen Universitäten erwähnt werden, weil mich das ja an Cambridge erinnern könnte. Anfangs dachte ich, dass sie mich schonen wollte, aber dann erkannte ich, dass ihre Motivation weniger selbstlos ist.
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