Das fremde Haus
mit deren Hilfe man sich die Straße hinauf- und hinunterbewegen kann. Sie verdecken die Hausnummer, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich um Nummer 20 handelt. Obwohl die Häuser der Straße gleichförmig und geklont sind, würden sie nur jemandem identisch erscheinen, der nicht seit einem halben Jahr fast jeden Freitag in ihrer Gesellschaft verbracht hat. Ich kenne den Futterstoff von allen Vorhängen, die Zugbänder von jedem Rollo.
»Dann kehren wir mal um und suchen Nummer 11«, sagt Fran und hantiert mit der Maus. Ich verfolge, wie der Bentley Grove zu rotieren beginnt.
Eine sich drehende Straße, ein sich drehendes Wohnzimmer. Eine sich drehende tote Frau in einer Blutlache.
Ich umklammere den Rücken von Frans Stuhl und befehle mir selbst, nicht schwindelig zu werden, nicht jetzt. Zu meiner Überraschung und Erleichterung klappt es.
Jetzt sind wir in der richtigen Richtung unterwegs. »Noch ein bisschen nach links«, sage ich zu Fran, obwohl sie keine Anleitung braucht, sie muss zu Hause geübt haben. Sie klickt einen weißen Pfeil an, und wir werden zu Nummer 9 transportiert. Die Haustür steht offen. In der Tür erkennt man undeutlich wuscheliges weißes Haar und einen roten Flanell-Morgenmantel, es ist der kleine gebeugte alte Mann, der dort wohnt. Er hält seinen Gehstock in der Hand. Ich bezweifle, dass er ohne Stock mehr als ein paar Schritte zurücklegen könnte. Ich habe ihn oft in Fleisch und Blut gesehen – jedenfalls das, was noch davon übrig ist, er sieht aus wie hundertfünfzig. Er humpelt ständig vom Haus zu den verschiedenen Mülltonnen, die kreisförmig in seinem Vorgarten aufgebaut sind, wie Stonehenge. Die Mülltonnen aller anderen Bewohner der Straße stehen ausnahmslos in den Garagen.
Ich warte darauf, dass Fran erneut auf den weißen Pfeil drückt, um uns weiter nach vorn zu bringen, aber sie tut es nicht. Sie dreht sich um und schaut mich an. »Das ist Nummer 9«, sage ich. »Nicht Nummer 11.«
»Vergiss das Haus. Schau dir das Auto an, das am Straßenrand geparkt hatte und gerade losfährt. Das Nummernschild ist unkenntlich gemacht worden, ärgerlicherweise, aber trotzdem …«
Ich habe einen sauren Geschmack im Mund. Ich will Fran sagen, dass das lächerlich ist, aber ich bringe keinen Ton heraus. Ich brauche meine ganze Energie, um das panische Entsetzen beiseitezuschieben, das auf mich einstürzt. Nein. Sie irrt sich.
»Als ich das sah, habe ich erst gedacht, die sind hingefahren, um das Haus zu besichtigen. Ich wette, sie haben ein Angebot abgegeben. Dann fiel mir ein, wie ernsthaft du unseren Eltern versichert hast, dass du das Haus nicht kaufen willst, und ich dachte, vielleicht gehört es ihnen ja längst und sie wollen es verkaufen, daher dein Interesse an diesem Haus. Ich habe mich da verrannt, ich geb’s zu. Ich dachte, die sind seit Jahren heimlich Millionäre und haben es vor dem Rest der Familie geheim gehalten.« Frans Ton ist munter, flapsig. Genießt sie das Ganze? »Aber wenn es euer Haus wäre, hättet ihr natürlich in der Einfahrt geparkt, nicht auf der Straße. Ich weiß gar nicht, wieso mir der Gedanke nicht gekommen ist. Die Häuser in dieser Straße haben große Einfahrten. Kit hätte bis direkt vor die Haustür von Nummer 11 fahren können, aber das würde er nicht tun, oder?«
Sag’s ihr. Sag ihr, dass sie Blödsinn redet, dass du nichts mehr davon hören willst.
»Nicht, wenn er dort gar nichts zu suchen hat.« Fran feuert die Worte praktisch auf mich ab, viel zu schnell. »Dann wird er nicht wollen, dass jemand eine Verbindung zwischen ihm und Selina Gane herstellt. Aber wenn er auf der Straße parkt, vor dem Nachbarhaus …«
»Es gibt keine Verbindung«, bringe ich noch heraus, dann setzt das geistige Verschwimmen ein, die Ecken meiner Gedanken krümmen sich nach innen. Ich schließe die Augen, begrüße den Abstieg in die Gedankenlosigkeit. Mach, dass es weggeht, mach, dass das alles weggeht. Als die flimmernden grauen Schlieren sich über mich breiten und mich hinunterziehen, erkenne ich, dass es nichts nützt. Es hat nicht funktioniert. Das, was ich am dringendsten zurücklassen wollte, ist mitgekommen: ein Foto von Kits Auto, das gerade losfährt. Durch das Rückfenster ist deutlich mein pinkfarbener Chongololo-Mantel zu erkennen, der hinter die Kopfstützen der Rückbank gestopft ist.
12
19. 7. 2010
Charlie war fassungslos. Domingo kam über den Rasen auf sie zugeeilt und hielt sich die Faust ans Ohr, eine Geste, die nur
Weitere Kostenlose Bücher