Das fremde Haus
eins bedeuten konnte. Haargenau so, wie sie es sich vorgestellt hatte, nur dass es in ihrem Worst Case-Szenario Tag gewesen war, nicht später Abend. Sie hätte Liv nie verraten dürfen, wo sie hingereist waren, sie hätte nie darauf vertrauen dürfen, dass ihre Schwester es für sich behalten würde. Aber es war besser, dass es jetzt passierte, wo Charlie allein war. Simon machte einen Spaziergang. Sie konnte es erledigen, bevor er zurückkam. Sie würde Sam oder Proust oder wer auch immer am Apparat war, klarmachen, dass Simon nicht zu sprechen war, ganz egal, was passiert sein mochte – wie dringend, unvorhergesehen oder außergewöhnlich auch immer. Nicht mal, wenn alle Einwohner von Spilling in ihren Betten abgeschlachtet worden waren. Charlie schwelgte in dieser grausigen Vorstellung.
Sie würde Simon nichts von dem Anruf erzählen und Domingo überreden, es ebenfalls nicht zu erwähnen. Das waren ihre Flitterwochen, Herrgott noch mal, auch wenn ihr frisch erworbener Ehegatte darauf bestanden hatte, heute Abend allein loszuziehen, während sie heulend und kettenrauchend auf der Terrasse zurückblieb und voller Groll den dunklen Berg anstarrte, der vielleicht ein Gesicht hatte, vielleicht auch nicht. Einen Spaziergang . Wer machte schon um zehn Uhr abends einen Spaziergang ohne bestimmtes Ziel? Wer sagte schon während der Hochzeitsreise zu seiner Ehefrau: »Versteh das bitte nicht falsch, aber es wäre mir lieber, wenn du nicht mitkämst.« Was für einen Typ Mann hatte Charlie da geheiratet? Sie ging davon aus, dass sie sich den Rest ihres Lebens bemühen würde, eine Antwort auf diese Frage zu finden.
»Simon, sind Sie das?«, rief Domingo von der anderen Seite des Pools. Charlie hatte die Terrassenbeleuchtung ausgeschaltet, weil sie nicht wollte, dass ihr verheultes Gesicht angestrahlt wurde, selbst wenn niemand da war, der es hätte sehen können.
»Ich bin’s«, sagte sie leise und hoffte schon, Domingo würde sie nicht hören. Sie überlegte, was der Hausverwalter wohl sagen würde, wenn sie ihm anbot, ihm einen zu blasen, und musste selbst darüber lächeln, auf was für absurde Ideen sie kam.
»Telefon. England.« Domingo deutete auf seine Holzhütte. »Sie rufen in meinem Haus an. Ich habe Nummer.«
Hatte Simons Mutter vielleicht das Zeitliche gesegnet? Unwahrscheinlich. Charlie hatte so eine Ahnung, dass Kathleen noch in dreißig Jahren auf ihre einzigartig schwächlich-hinfällige Weise ihre Neurosen pflegen und das Leben aus allen Menschen heraussaugen würde, die ihr nahestanden. Charlie hatte immer ätzenden Hohn über Ahnungen vergossen, ihren eigenen und die anderer Leute, insbesondere Simons, aber nachdem sich ihre Anruf-aus-England-Vorahnung so zuverlässig materialisiert hatte, sollte sie vielleicht anfangen, ihren Instinkten zu vertrauen.
Sie drückte ihre Zigarette aus, wischte sich mit den Händen das Gesicht ab und stand auf. Sie war schon halb die Treppe hinunter, als sie ihre Meinung änderte. »Scheiß drauf«, murmelte sie. Warum sollte sie all diese Mühen auf sich nehmen? Sie hatte es satt, immer zu versuchen, den Dingen die richtige Form aufzuzwingen. Jetzt war mal jemand anderes dran, dafür zu sorgen, dass nicht alles auseinanderfiel. »Simon ist nicht hier, er ist kurz weg«, rief sie über den Pool. Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Wenn Domingo in einer Stunde wiederkommen wollte, um Simon etwas auszurichten oder ihm eine Telefonnummer zu geben, die er anrufen sollte, war das seine Sache. Wenn Simon den Rest ihrer Flitterwochen damit zubringen wollte, mit Sam Kombothekra oder dem Schneemann zu telefonieren, wenn er den nächsten Flug heimwärts buchen und zurück zur Arbeit hasten wollte, anstatt mit Charlie in einer wunderschönen Ferienvilla zu bleiben … tja, glücklicherweise war ja diese großartige Sache erfunden worden, die man Scheidung nennt.
»Du telefonieren, nicht Simon«, sagte Domingo. »Schwester Olivia. Du kommen jetzt, du telefonieren in meinem Haus. Sie sehr aufgeregt, sie weinen.«
Charlie rannte bereits. Alle Gedanken – dass sie sich von Simon scheiden lassen würde, dass sie ihn liebte, dass sie ihn hasste –, waren von ihr abgefallen und hatten nur ein einziges Wort in ihrem Gehirn zurückgelassen: Krebs. Olivia hatte die Krankheit vor Jahren überstanden, aber insgeheim hatte Charlie immer gefürchtet, dass sie zurückkommen würde, egal, wie oft ihre Schwester ihr versicherte, dass das nicht möglich war. »Wenn es nicht in den ersten
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