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Das fremde Haus

Das fremde Haus

Titel: Das fremde Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Hannah
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warum.«
    »Könnten Sie es mir noch einmal erklären?«, fragte Sam. Jackie riss den Blick von Grint los und schaute ihn böse an. Sie hatte einen ihrer goldenen medizinischen Ohrstecker herausgenommen und benutzte ihn, um ihre rosa lackierten Fingernägel zu säubern. Ein seltsames Verhalten für eine so gut gekleidete Frau, dachte Sam. Die makellose Erscheinung und diese ziemlich unappetitliche Körperpflege in aller Öffentlichkeit schienen einander zu widersprechen. Jackies Make-up wirkte, als wäre es von einem Profi aufgetragen, und der dunkle Bubikopf war mit architekturmäßiger Präzision gestylt. Es war Sam schleierhaft, wie sie diesen starren, dreieckigen Look zustande brachten – ganz ohne Baugerüst und Walzstahlprofil.
    Er konnte ihr Alter schlecht einschätzen, obwohl er normalerweise sehr gut darin war – zwischen zwanzig und fünfundvierzig war alles drin. Ihr Gesicht war rund und kindlich, aber die bloßen Beine waren mit einem Flechtwerk blauer Venen überzogen, wie bei einer viel älteren Frau. Vielleicht hatte es aber auch gar nichts mit dem Alter zu tun. Wenn seine Frau Kate hier wäre, würde sie sagen: »Für die Beine kann sie vielleicht nichts, aber für den Rock schon. Hosen wurden nicht ohne Grund erfunden.« Oder so ähnlich. Für Kate waren die sonderbarsten Dinge ein Stein des Anstoßes, Dinge, die Sam vollkommen egal waren: Leute, die Sachen anzogen, die ihnen nicht standen, falsch gehende Uhren im öffentlichen Raum, Häuser mit braunen Fensterrahmen, Heißluftgeräte zum Händetrocknen.
    Sam hatte den Eindruck, dass Jackie Napier erwartet hatte, dass Grint die Führung übernehmen würde, und es ihm verübelte, dass ein Neuankömmling, der nicht einmal von hier war, sich in den Vordergrund drängte. Aber Grint hatte entschieden, dass Sam die Zeugin zur Sache befragen sollte, und bislang hatte er kein Wort beigesteuert. Er saß in einer Ecke des Raums und benutzte einen Heizkörper als Fußstütze. Sam fand diese verdrossene Schuljungen-Haltung unpassend und hätte es lieber gesehen, wenn Grint die Füße auf den Boden gestellt hätte, aber er gab sich keinen Illusionen darüber hin, wer hier das Sagen hatte. Egal, wo ich hingehe, immer stellt sich heraus, dass jemand anderes das Sagen hat, sinnierte er. Was ihn nur indirekt beunruhigte. Er brachte viel Zeit damit zu, sich zu fragen, ob er nicht versuchen sollte, mehr Durchsetzungsfähigkeit zu zeigen, kam aber immer wieder zu dem Schluss, dass er lieber keine Macht über andere haben wollte, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Allerdings hätte er es lieber gesehen, wenn diejenigen, die die Macht hatten, sich so benehmen würden, wie Sam sich an ihrer Stelle benommen hätte.
    »Das war nicht als Kritik gemeint«, beruhigte er Jackie. »Die Informationen, die Sie uns gegeben haben, waren sehr hilfreich, und wie Sie schon sagten, zwei Tage sind keine lange Zeit.«
    »Nein. Was hätte ich denn machen sollen, die Polizei anrufen und sagen: ›Entschuldigen Sie, aber ich habe eine Leiche auf einem Immobilienportal gesehen, nur dass sie jetzt weg ist‹? Wer weiß schon genau, ob sie überhaupt je da war? Niemand hätte mir geglaubt. Ich hätte wie eine Idiotin dagestanden.«
    »Und doch haben Sie die Polizei angerufen«, bemerkte Sam.
    »Na ja, ich konnte es ja schlecht einfach auf sich beruhen lassen, oder? Ich meine, vielleicht habe ich es mir ja nur eingebildet, vielleicht war es gar nicht da, aber ich muss es doch trotzdem jemandem sagen, oder? Was ist, wenn es keine Einbildung war? Ich hab mir echt einen Kopf deswegen gemacht und alle meine Freundinnen gefragt – reine Zeitverschwendung, ich bekam von jedem einen anderen Ratschlag. Einige meinten: ›Sei nicht albern, das kannst du unmöglich gesehen haben‹, die anderen sagten: ›Das musst du melden‹. Um ganz ehrlich zu sein, die meisten haben mich einfach ausgelacht. Das war überhaupt nicht witzig«, fügte sie empört hinzu, als hätte Sam das behauptet. »Am Montagmorgen bin ich aufgewacht und hab mir gedacht, das wird mir keine Ruhe lassen, wenn ich’s mir nicht von der Seele rede. Ich bin für so was nicht zuständig, oder? Niemand bezahlt mich dafür, dass ich mir wegen irgendwelcher Morde den Kopf zerbreche. Also habe ich die Polizei benachrichtigt.« Ihr Dialekt klang nach Essex, aber vielleicht war es ja die Cambridger Mundart. Gab es so etwas überhaupt? Wenn ja, gehörte sie jedenfalls nicht zu den bekannteren regionalen Dialekten wie Brummie, was die Leute

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