Das fremde Jahr (German Edition)
nicht, wie Frau Bergen es schafft, nicht zusammenzubrechen, als das Licht angeht. Alle Augen sind auf sie gerichtet. Sie bleibt in einer Ecke stehen, wird dann aber in die Mitte des Raums gezogen, sie soll im Mittelpunkt stehen, und die Gäste gehen ein Stück zurück, damit sie besser zur Geltung kommt. Aber sie will nicht von allen angeschaut werden, sie senkt den Kopf ein bisschen und fasst sich instinktiv an ihre ungewaschenen Haare, und mir wird schlagartig klar, warum diese Überraschung keine gute Idee war. Frau Bergen in ihren Alltagskleidern, weder zurechtgemacht noch geschminkt, sieht aus wie eine kranke, vierzigjährige Frau; hätte sie es hingegen gewusst, hätte sie sich Zeit genommen, den anderen etwas vorzumachen, sie hätte eines der schönen Kleider aus ihrem Schrank geholt und angezogen, sie hätte sich hübsch frisiert und Lippenstift in einer Farbe aufgetragen, die ihr steht. Nun aber ist Frau Bergen unvorbereitet den Blicken ausgesetzt, sie sagt ein paar zögernde Worte und fordert die Gäste auf, auf ihr Wohl zu trinken. Das Licht wird wieder gedimmt, und sie nutzt die Gelegenheit, mich am Arm zu nehmen und mit mir zu verschwinden. Wir flüchten uns in die Küche, wo wir erst einmal durchatmen. Frau Bergen bricht in Tränen aus, aber nur kurz – falscher Alarm –, sie fasst sich rasch wieder und lächelt mich an, dann nimmt sie mich ohne unnötige Worte in die Arme, und ich spüre, wie zerbrechlich alles ist, ich begreife, wie schnell ein Fest zum Drama werden kann. Dann nehmen wir uns fünf Minuten Zeit, um uns schön zu machen, unsere Jeans gegen elegante Kleidung auszutauschen. Ich stehe lange vor dem kleinen Kleiderschrank in meinem Zimmer und frage mich, ob ich es wagen soll, das orangefarbene Kleid zu tragen, und schlüpfe schließlich ohne rechte Überzeugung hinein. Der tiefe Ausschnitt und die nackten Oberarme stören mich. Und ich habe auch keine passenden Schuhe. Ich ziehe das Kleid wieder aus und probiere es mit einer schwarzen Hose und einer schwarzen Bluse, rufe mir dann aber in Erinnerung, dass heute der Geburtstag von Frau Bergen ist und nicht ihre Beerdigung. Vielleicht sollte ich etwas mehr guten Willen zeigen, und ich muss an die Worte meiner Mutter denken, die mir von frühester Kindheit an bei jeder Gelegenheit vorhält, ich sei nicht mädchenhaft genug. Ich stehe lange vor dem Spiegel, zu keiner Entscheidung fähig, schwarz oder orange, Kleid oder Hose? Und plötzlich gerate ich in Panik, etwas überwältigt und lähmt mich, und ich ärgere mich, dass ich nicht selbstsicherer sein kann, wie andere gleichaltrige Mädchen auch. Aber ich kann den Abend doch wohl nicht in meinem Zimmer verbringen, nur weil ich nicht weiß, was ich anziehen soll! Ein Klopfen an der Tür, es ist Frau Bergen in einem türkisblauen Kostüm und mit einem gleichfarbigen Tuch in den Haaren. Auf einmal fällt mir auf, was für schöne Augen sie hat, wie die Tränen ihren Blick klarer gemacht haben. Und wieder greife ich zu einer Notlüge. Um ihr eine Freude zu machen, sage ich, ich würde das orangefarbene Kleid ja gern tragen, hätte aber keine passenden Schuhe. Wenige Sekunden später ist sie zurück, mit mehreren Paar Schuhen aus ihrem Fundus, die mir natürlich zu groß sind, aber was bleibt mir anderes übrig? Ich schlüpfe wieder in das Kleid und in ein Paar nicht allzu hochhackige Pumps. Arm in Arm verlassen wir mein Zimmer, als wären wir das Traumpaar des Jahrhunderts, wohl wissend, dass man auf uns wartet. Und zum ersten Mal fühle ich mich frei, merkwürdig leicht; frei, weil ich Ausländerin bin und ein provisorisches Leben habe, ohne Zeugen, ohne Vergangenheit. Ich muss niemandem etwas beweisen. Frau Bergen wird gleich von ihren Freunden in Beschlag genommen, die sie betrachten, ihr Komplimente machen, sich um sie scharen. Ich weiß nicht, wo ich mich hinsetzen soll, was ich machen oder mit wem ich reden soll, aber bei dieser lauten Musik kann man sich sowieso nicht verständigen. Thomas spielt den Diskjockey, legt altmodische, deutsche Schlager auf, die ich nicht kenne, und auch ein paar Songs, die er und ich mögen. Ich verziehe mich hinter die Bar und schenke den Gästen nach, um Herrn Bergen zu entlasten, der nun seine Frau zum Tanzen auffordern kann. Ich öffne Bierflaschen, schenke Wein nach und eine Art Bowle, die wir mit Wodka gemixt haben, ich springe ein, wo nötig. Ich liebe es, hinter der schützenden Bar zu stehen und etwas zu tun zu haben. Ich verstehe nicht immer genau,
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