Das fremde Jahr (German Edition)
was die Gäste trinken wollen, manchmal müssen sie mir ins Ohr schreien. Manche wollen noch mehr sagen, aber es ist sinnlos, man versteht sein eigenes Wort nicht, das kann mir nur recht sein. Niemand interessiert sich für mein Kleid, dessen schreiende Farbe in dem Dämmerlicht ohnehin nicht so grell ist, und auch nicht für meine nackten Beine, die man hinter der Bar nicht sieht. Als ich einmal ein paar Sekunden Zeit habe, reinige ich den Tresen, wie ich es in Kneipen schon gesehen habe, ich sammle die leeren Gläser ein und spüle sie, mache den Kühlschrank auf und zu. Ich bin fast wie zu Hause. Es ist, als hätte ich meinen Platz gefunden: im Hintergrund und doch anwesend, auf einem Beobachtungsposten. Sehen und nicht gesehen werden, die ideale Position. Der Abend schreitet fort, es wird Nacht, aber niemand geht. Ich serviere ein Glas Alkohol nach dem anderen. Ich trinke selbst ein Glas Bowle, dann noch eines. Die Luft ist zum Schneiden dick, man kann kaum noch atmen, aber niemand scheint sich an dem Rauch zu stören, auch nicht an der Hitze und dem Krach. Nein, jeder lebt sein Leben und bewegt sich zwischen der Bar, seinem Sitzplatz und der Tanzfläche hin und her, jeder hat seine eigene, ihm gemäße Bahn gefunden und will Frau Bergens vierzigsten Geburtstag offenbar bis zum frühen Morgen durchfeiern. Einer der Freunde der Bergens unterbricht mich in meinem Tun und fordert mich zum Tanzen auf. Ich traue mich nicht, nein zu sagen. Die Musik gefällt mir nicht, ich vermeide es, in Thomas’ Richtung zu blicken, ich bin nicht sicher, ob er mich überhaupt gesehen hat. Zum Glück ist die Tanzfläche überfüllt und die Tanzenden rempeln sich dauernd an. Ich fühle den Atem des Mannes, seine feuchten Hände, mit der einen hält er mein Handgelenk, die andere liegt auf meiner Hüfte, ich spüre seinen alkoholisierten Atem an meiner Schläfe, und ich mag es nicht, dass sein Bauch meinen Bauch berührt, obwohl er mich nicht zu eng an sich zieht, er wahrt den schicklichen Abstand, hat aber nun mal einen Bauch. Ich dagegen habe ein Problem, das mich von ihm ablenkt und das es mir unmöglich macht, irgendetwas zu empfinden und mich in einem Zustand totaler Neutralität hält: Ich versuche, meine zu großen Schuhe nicht zu verlieren, das erfordert Geschick und volle Konzentration. Der Mann entfernt sich von mir und tanzt ein paar Sekunden lang allein, dreht sich um sich selbst und greift wieder nach meiner Hand, ich weiß nicht, was ich solange machen soll, also mache ich es wie er, ich bewege mich vor und zurück, ich glaube, es ist ein Mambo, der Träger meines Kleids rutscht mir von der Schulter, meine verschwitzten Haare kleben mir an der Stirn, meine Füße knicken in den Schuhen um, aber trotzdem fühle ich mich wohl als Fremde unter Fremden. Bald bin ich barfuß und gehe zu Thomas, der konzentriert hinter seinen Plattentellern steht, ich vergesse den Mann, der mich zum Tanzen aufgefordert hat, und bewege mich in meinem Kleid vor Thomas hin und her, gebe ihm ein Zeichen, mitzutanzen und ziehe ihn am Arm. Ich erkenne diese junge Frau nicht wieder, die gar nicht mehr reserviert und diskret ist, die neckisch mit den Schultern spielt, ihr Becken bewegt und sich der Tragweite ihres Benehmens offenbar nicht mehr ganz bewusst ist. Ich trete aus mir heraus und wohne dem Schauspiel bei, das diese junge Frau hier abzieht; plötzlich frivol und locker, lässt sie sich davontragen von der undurchdringlichen Nacht und den hämmernden Bässen, die ihren ganzen Körper vibrieren lassen. Diese junge Französin, die barfuß in ihrem schlechtsitzenden, orangefarbenen Kleid tanzt und die es schließlich aufgibt, Thomas auf die Tanzfläche locken zu wollen, die rückwärts wieder zur Tanzfläche geht und in die Arme von Herrn Bergen stolpert, der ihr für einen Augenblick ganz nah ist, versteht nicht, was er ihr ins Ohr flüstert und rennt überstürzt davon, um sich auf der Toilette im Erdgeschoss zu übergeben.
Ich fahre mit meiner Lektüre von
Mein Kampf
fort, auch wenn Simon kein großes Interesse an meiner Entdeckung zeigt. Ich will ihm dennoch eine Zusammenfassung dessen schicken, was Adolf Hitler geschrieben hat, aber das Lesen ist so anstrengend, dass ich manchmal über dem dicken Band einschlafe. Dann verbringe ich einen Teil der Nacht neben
Mein Kampf
und mit dem Wörterbuch auf dem Boden vor dem Bett, fühle mich beim Aufwachen ganz scheußlich und frage mich, was es nützt, wenn ich mich hindurchkämpfe, um zu
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