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Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Giraud
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gehe davon aus, dass es ein langer und langweiliger Tag werden wird, da ich nichts Besonderes zu tun habe. Ich habe keine Lust, mich so früh schon an die Arbeit zu machen, jede Aufgabe kommt mir wie ein Riesenberg vor, den ich versetzen muss, ich habe die Nase voll vom Wäschewaschen, Bügeln, diesem Treppauf, Treppab, dem Hund, mit dem ich Gassi gehe, ohne dass ich es müsste. Ich habe diese bewegungslosen Tage satt, an denen ich mich nur treiben lasse. Ich ertrage die Art nicht mehr, wie diese Familie mich umhüllt und in Besitz nimmt, mich verschluckt, um mich besser zu beschützen. Es erschreckt mich, was allmählich mit meinem Wesen geschieht, ohne dass ich die Kraft hätte, dem zu entgehen. Niemand würde verstehen, warum ich von so netten Leuten weg will. Ich spüre die Gefahr, ohne sie benennen zu können, ohne zu wissen, wo sie genau herkommt. Ich weiß, dass ich große Risiken eingehe, wenn ich hierbleibe, ich spiele mit Streichhölzern, die mich bald verbrennen werden, aber dennoch bleibe ich, ich fühle mich verpflichtet, die vereinbarte Zeit auszuharren, ich bringe die Energie nicht auf, die mich dazu befähigen würde, mich in Sicherheit zu bringen.
     
    Es war mein Vorschlag, den Großvater zu besuchen. Weil dieser Mann meine Neugier geweckt hat. Ich habe das Gefühl, dass ihn ein Geheimnis umgibt, über das niemand spricht. Als müsste er die Wirklichkeit eines ganzen Lebens mit sich nehmen, wenn er geht, als wenn das Alter und der Tod erlaubten, alles auszulöschen, zu leugnen, zu vergessen. Aber die Art, wie dieser alte Herr am Tag seines Auszugs mit mir geredet hatte, die Eleganz, mit der er die paar Worte in perfektem Französisch zu mir gesagt hatte, die Verlorenheit, die er zweifellos verspürt haben musste, all das drängt mich, ihn näher kennenlernen zu wollen. Denn die Schwierigkeiten des Lebens anderer ziehen mich an, weil ich verstehen möchte, wie sie kämpfen, um am Leben zu bleiben, wie manche es ertragen, nichts weiter als eine Erinnerung zu sein und für immer getrennt von denen, die sie verloren haben. Beim Abendessen, als sich der Duft des Bratens mit dem des mittlerweile vertrauten Kohls mischt, frage ich nach dem Großvater, dann noch einmal, sage schließlich unverblümt, dass ich ihn gern wiedersehen würde. Mein Vorschlag löst keine Reaktion aus. Frau Bergen steht auf, um Bier zu holen, Herr Bergen nimmt sich viel Zeit, um das, was er im Mund hat, zu kauen und dann zu schlucken, bevor er Nina fragt, ob sie ihre Scheibe Schweinebraten noch aufessen möchte oder ob er sie von ihrem Teller nehmen soll. Nur Thomas schaut mich an, er scheint verstanden zu haben, worauf ich hinauswill, und fragt sich, wie dieses Abendessen weitergehen wird. Offenbar weiß jeder etwas, was ich nicht weiß, aber niemand ist bereit, über die Vergangenheit zu reden. Nach sehr langem Schweigen sagt Herr Bergen schließlich, ich könne ihn nächste Woche begleiten, wenn er seinen Vater besucht. Er müsse zu ihm, um einige Formalitäten zu erledigen.
     
    Wir fahren durch den Regen, vom Radio geschützt. Wir müssen nicht reden. Ich erkenne den Industriehafen und die Konservenfabriken wieder, an denen ich mit Frau Bergen am Tag meiner Ankunft vorbeigefahren bin. Die Kais sind verlassen, wahrscheinlich weil es in Strömen regnet, und die mitten am Tag brennenden Straßenlaternen verleihen diesen Docks eine Atmosphäre wie aus dem 19 . Jahrhundert. Wir lassen den Hafen hinter uns und fahren in Richtung Altstadt. Etwa hundert Meter vor dem Eingang des Altersheims stellen wir das Auto ab, Herr Bergen öffnet seinen großen Regenschirm und bietet mir seinen Arm an. Wir gehen eng nebeneinander und achten darauf, die Pfützen zu vermeiden. Trotzdem sind wir nass, als wir vor dem Zimmer des Großvaters stehen, und ich bin schockiert, als Herr Bergen gleich nach dem Anklopfen eintritt, ohne ein »Herein« abzuwarten. Ich lasse ihn vorgehen und wage zuerst nicht, ihm in die Privatsphäre des alten Mannes zu folgen. Deshalb kommt dieser auf mich zu, öffnet mir ganz weit die Tür und bietet mir einen Stuhl an. Zunächst verstehe ich kaum etwas von der Unterhaltung, als hätten sich meine vier Monate Alltagsdeutsch plötzlich in Luft aufgelöst. Ich erkenne nur wenige Wörter und schließe daraus, dass die beiden Männer Dialekt sprechen, was mir am Tag des Umzugs nicht aufgefallen war. Vielleicht sprechen sie auch eine mir unbekannte Sprache, damit ich sie nicht verstehe. Der Großvater scheint sich gut eingelebt

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