Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das fremde Jahr (German Edition)

Das fremde Jahr (German Edition)

Titel: Das fremde Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Giraud
Vom Netzwerk:
verstehen, was die Deutschen und ganz Europa erlebt haben. Ich frage mich, ob ich nicht gar die einzige Jugendliche auf der Welt bin, die sich durch die Brutalität dieser Seiten quält, obwohl ich an ganz andere Dinge denken müsste, an das Leben, das mich erwartet, und auf das Glück, frei zu sein. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich mich irgendwie bestrafe. Ich fühle mich schuldig, weiß aber nicht, wofür.
     
    Ich warte, bis alle aus dem Haus sind, bevor ich meine Malsachen auf dem Küchentisch ausbreite. Der Geburtstag meiner Mutter rückt näher, und mir bleiben nur wenige Tage, um das Bild zu malen, das ich ihr schenken will. Herr und Frau Bergen sind gerade weggefahren, nachdem sie etliche Zigaretten geraucht und wieder mal die ganze Luft verpestet haben. Sie fahren zu einem Termin ins Krankenhaus am anderen Ende der Stadt. Ich muss Nina erst um dreizehn Uhr abholen, und somit habe ich den ganzen Vormittag zum Malen. Das Licht fällt schräg zum Küchenfenster herein, und mit einem Mal umfängt mich diese totale Stille, eindringlich und brutal drängt sie sich auf. Ich öffne das Küchenfenster und schiebe die Glastür im Wohnzimmer auf, damit das Haus endlich wieder atmen kann. Dann lege ich den Zeichenblock, die Pinsel und den Aquarellkasten auf den Tisch, ohne die leiseste Ahnung, ob ich etwas Brauchbares zustande bringen werde. Ich habe keine Idee, keine besondere Lust, habe nichts Bestimmtes zu sagen, nur den Wunsch, mich meiner Mutter wieder anzunähern, nun da sie vierzig wird. Ich möchte ihre Glückwunschkarte selbst malen, mir schwebt ein eher kleines Bild vor, etwas Bescheidenes und gleichzeitig Intensives, eine Art Miniatur. Ich will etwas malen, was es noch nicht gibt, eine Harmonie aus neuen Farben, die es bisher noch nicht gab, ich möchte sie überraschen und lege die Messlatte sehr hoch. Es ist neun Uhr morgens, durch das offene Fenster dringt das Gezwitscher der Vögel herein, und ich atme die frische Luft mit vollen Zügen ein. Ein paar Stunden lang werde ich jetzt versuchen, meine Energie, meine Lebenslust und meine Liebe mittels Farben auf Papier zu bannen, um meiner Mutter zu sagen, dass ich an sie denke, trotz der Entfernung, unter der ich ebenfalls leide. Mit meinem Bild will ich ausdrücken, was ich mit Worten nicht sagen kann. Schon seit Tagen habe ich darüber nachgedacht, aber mir ist nichts Passendes eingefallen. Ich frage mich, was ich meiner Mutter zu ihrem vierzigsten Geburtstag wünschen kann. Was bedeutet »Joyeux anniversaire« – ein fröhlicher Geburtstag, wenn einem die Fröhlichkeit, die Leichtigkeit abhandengekommen ist? Ein solcher Glückwunsch hat etwas Dreistes, also besser ein nicht ganz gelungenes Bild malen als ein paar deplatzierte Worte schreiben. Meine Hand zaudert zunächst, als ich mit dem Malen beginnen will, denn ich frage mich, was meine Mutter und mich verbindet, was uns trennt, was uns daran hindert, uns auszusöhnen. Dann, mit allen Zweifeln und allen Ängsten, überziehe ich das Blatt mit gelben und violetten Pinselstrichen und warte darauf, dass die Feuchtigkeit des Pinsels das Ihre tut, ich bewege ihn, ohne zu wissen, was ich tue, ich bringe die Farben auf das Papier, bis eine Silhouette erscheint, ein Profil, eine Bewegung. Ich frage mich, wie
ihr
Schmerz ist im Vergleich zu meinem, ich versuche, mich in meine Mutter hineinzuversetzen, aber alles verschwimmt. Ich bleibe lange am offenen Fenster stehen und starre auf einen Punkt in der Ferne, und das gefällt mir nicht.
     
    Es regnet seit Tagen. Wir gehen jeden Morgen denselben Weg, Nina und ich, in Stiefeln und weiten Regencapes. Nina geht durch jede Pfütze, während ich ihnen ausweiche, ihr scheint der bleierne Himmel nichts auszumachen, ihre Augen sind meist auf den Boden gerichtet, sie hebt ab und zu einen Tannenzapfen oder ein Holzstück auf, das sie als Stock verwendet und das ich dann zurück nach Hause nehmen muss. Dort lege ich Ninas Stock unter das Vordach links neben der Eingangstür, wo Thomas immer sein Moped abstellt. Aber mittlerweile häufen sich dort die Stöcke, die Nina nie mehr anrührt. Frau Bergen steht früher als gewöhnlich auf und scheint trotz des Regens guter Laune zu sein. Seit einigen Tagen ist sie, wenn ich morgens zurückkomme, bereits in der Küche, und ich traue mich dann nicht, in mein Zimmer hinunterzugehen, um zu lesen oder mich noch einmal kurz hinzulegen, obwohl ich noch müde bin. Ich setze mich stattdessen mit einem Becher Kaffee an den Tisch und

Weitere Kostenlose Bücher