Das fremde Jahr (German Edition)
ist wie früher. Ich kann mir auch vorstellen, dass sie aus Angst, an diesem Abend zu dritt allein zu sein, Freunde nach Hause einladen, nur um nicht merken zu müssen, was für ein hinkendes Gespann sie jetzt bilden, aber ich wüsste nicht, wer von ihren Freunden couragiert genug wäre, die Lüge zu ertragen, die sich in der Wohnung eingenistet hat und die mit der Abwesenheit ihrer beiden jüngsten Kinder zu tun hat. Oder aber sie laden nur die Großeltern ein und verschleiern das Desaster ihrer Existenz hinter einer quasi öffentlichen Komödie, in der drei Generationen gemeinsam auftreten: die Generation, die sich geopfert hat, die, die an ein ordentliches und ehrenwertes Leben geglaubt hat, und die, die nur an Flucht denkt. Ich denke an den bevorstehenden Geburtstag meiner Mutter, als Frau Bergens Auto durch das Haupttor in der Stadtmauer fährt, und frage mich, was für ein Geschenk ich ihr gerne machen würde: Ich habe keine Idee, mein Kopf ist leer, völlig leer. Wir fahren am Büro der Bergens vorbei, wie jedes Mal, wenn wir in der Stadt sind, unweigerlich müssen irgendwelche Akten geholt oder Nachrichten auf dem Anrufbeantworter abgehört werden, die Frau Bergen dann eifrig notiert. Danach gehen wir durch die Breite Straße zum Kanzleigebäude, schlängeln uns unter den Arkaden an den Fußgängern vorbei, die vor den Schaufenstern stehen bleiben. Wir kaufen ein, was man für fünf Personen zum Abendessen braucht, Frau Bergen hat keine Ahnung, dass alles bereits organisiert ist, und gehen zum Schluss noch in eine Konditorei, wo sie eine Torte mit viel Creme und Marzipan ersteht – eine regionale Spezialität. Ich betrachte sie, als sie vor der Theke steht und sich schon darauf freut, was ihre Familie für Augen machen wird, wenn sie mit dieser Torte ankommt, obwohl sie selbst sicher nicht mehr als einen oder zwei Happen davon essen wird. Seit einiger Zeit hat Frau Bergen kaum noch Appetit. Sie stochert auf ihrem Teller herum, schneidet ihr Essen in immer kleinere Häppchen, macht kleine Häufchen und steckt sich dann widerwillig etwas in den Mund, schluckt es aber nicht hinunter. Es sind die Medikamente, hat Herr Bergen einmal gesagt, und ich habe daraus geschlossen, dass Frau Bergens Behandlung ihr den Appetit nimmt und Brechreiz auslöst. Denn nach dem Essen verschwindet sie manchmal auf der Toilette, und uns ist klar, dass sie sich erbricht.
Lächelnd übergibt sie mir nun die Tortenschachtel mit der Ermahnung, sie schön gerade zu halten, und als ich sie lächeln sehe, frage ich mich, was schlimmer ist: Mit einem Lächeln auf den Lippen vielleicht bald schon zu sterben oder weiterzuleben und nicht mehr lächeln zu können; ich sollte das Leben meiner Mutter nicht mit dem von Frau Bergen vergleichen, und dennoch kann ich es mir nicht verkneifen, ihre beiden Gesichter nebeneinander zu sehen, ihr jeweiliges Schicksal, die eine ohne ihre Kinder, die andere ohne ihre Eltern. Wir gehen unter den Arkaden wieder zurück, es ist noch Tag, und ich spüre wieder dieses Gefühl in mir aufsteigen, das ich damals in Dänemark hatte, ich fühle mich lebendig, vom Leben der anderen durchdrungen, mit ihnen verbunden, denn dank ihrer kann ich mich selbst vergessen. Vor dem Schaufenster eines Geschäfts für Künstlerbedarf bleibe ich stehen, gehe hinein und kaufe ein kleines Kästchen mit Aquarellfarben. Ich habe noch nie einen Pinsel in der Hand gehalten, aber ich denke, ich werde etwas für meine Mutter malen.
Als wir auf das Haus zufahren, sehen wir mehrere Autos in der Auffahrt stehen. Frau Bergen wirkt nervös, als sie die Autotür öffnet, ich sehe auch, wie sie plötzlich blass wird. Als wir mit vollen Händen das Haus betreten, eilt uns Thomas entgegen, nimmt uns die Einkäufe ab und bringt sie in die Küche. Frau Bergen will die Torte nicht hergeben, sie hält sie fest, wie ein Kind sein Plüschtier. Dann fordert Thomas uns auf, ihm zu folgen, und uns bleibt nichts anderes übrig. Wir gehen die Stufen zum Untergeschoss hinunter, wo wir Geräusche aus der Diskothek hören. Als wir von Thomas hineingeschoben werden, geht das Licht aus, und man nimmt angehaltenen Atem wahr, eine stumme, aber dichte Präsenz, ein Erzittern im Dunkeln. Plötzlich sprüht auf einer Baisertorte im Halbdunkel ein kleines Feuerwerk, und alle singen: »Zum Geburtstag viel Glück …« Einzelne Umrisse werden sichtbar, werden immer aufgeregter, einige Gesichter zeichnen sich im Schein der kurzen, zitterigen Funken ab. Ich weiß
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