Das fremde Jahr (German Edition)
die Küchentür hinter sich geschlossen hat, zur Zeugin macht. Eines Abends kommt er sogar in mein Zimmer, nachdem er angeklopft hat. Er tritt ein, ohne zu ahnen, dass ich gerade blitzschnell
Mein Kampf
unter der Decke verschwinden lassen musste. Denn, und das muss ich an dieser Stelle gestehen: Statt weiter den
Zauberberg
zu lesen, habe ich dasselbe getan wie ein Großteil der Deutschen und Thomas Mann gegen Adolf Hitler ausgetauscht. Ich wollte verstehen, was das deutsche Volk gepackt hat, was die Menschen dazu gebracht hat, sich durch ein so wahnhaftes, hasserfülltes Buch leiten zu lassen. Herrn Bergens Eintreten stört mich also in doppelter Hinsicht. Ich bin kein bisschen locker und verhasple mich, was in einer Fremdsprache natürlich nicht groß auffällt, das ist einer der Vorteile, ich kann stottern, mich verbessern, mein Zögern verrät nichts. Herr Bergen fragt, ob er sich setzen darf, aber das ist fast unmöglich, mein Zimmer ist so winzig, dass überall etwas herumliegt, auch auf dem Stuhl unter dem Klappfenster. Ihm ist bewusst, dass er sich in meinem Zimmer befindet, aber gleichzeitig auch in seinem Haus, er verhält sich also so, als wäre er bei mir bei sich: Er nimmt meine Kleider weg, um sich setzen zu können, so einfach ist es, er nimmt sie vom Stuhl und legt den Haufen aufs Bett – warum umständlich, wenn es auch einfach geht? Dann sagt er mir, was ihn beschäftigt. Herr Bergen hofft, dass Frau Bergens Eltern an ihrem Geburtstag hiersein können, aber sie leben im Osten, unweit der Grenze, und er ist sich nicht sicher, ob sie ein Visum bekommen. Was mir Herr Bergen damit sagen will, aber nicht deutlich ausspricht, ist weniger, wie schmerzlich es ist, wenn Eltern ständig von ihren Kindern getrennt sind, sondern eher, dass dieser Geburtstag für die Eltern die letzte Möglichkeit sein könnte, ihre Tochter lebend zu sehen – aber das wagt niemand auszusprechen. Ich frage mich, warum Herr Bergen seine Not gerade mir anvertraut, ich kann ihm nicht helfen, ihm nur zuhören, damit er sich seine Sorgen von der Seele reden kann. Um von der Krankheit abzulenken, frage ich, ob Frau Bergen Geschwister hat. Es gibt Brüder, bestätigt Herr Bergen, aber den Rest seines Satzes verstehe ich nicht mehr genau. Er hört nicht mehr auf zu reden, rollt das
R
mehr denn je. Er beginnt einen Monolog, der viel zu schwierig für mich ist und mir fast Angst macht, aber er redet ohnehin nicht mehr mit mir, obwohl er mich weiter anschaut. Ich hoffe, dass er bald wieder geht, ich kann ihm nicht helfen, und dieses Zimmer ist wie eine Falle, man kann nicht aufstehen und herumgehen, man kann nicht aus dem Fenster schauen oder sich auf andere Weise entziehen. Man kann den anderen nicht auf Distanz halten, ist sich gezwungenermaßen ganz nahe. Ich bleibe also mit angezogenen Knien im Bett sitzen, mit dem Rücken an der Wand, in einer Position, die mir etwas zu intim ist. Ich lasse meine Füße unter dem Betttuch verschwinden, ich will nicht, dass Herr Bergen meine Füße sieht, das ist alles, was ich tun kann, um mich zu schützen. Ein langes Schweigen entsteht, bevor Herr Bergen endlich aufsteht und mein Zimmer verlässt.
Am Tag ihres Geburtstags muss ich Frau Bergen aus dem Haus locken, damit dort die Überraschung vorbereitet werden kann. Wir fahren zusammen in die Stadt zum Einkaufen, ich mit dem Vorwand, ein Geburtstagsgeschenk für meine Mutter kaufen zu wollen. Wir amüsieren uns über den Zufall, dass die Geburtstage von Frau Bergen und meiner Mutter nur um wenige Tage auseinanderliegen, auch meine Mutter wird dieses Jahr vierzig. Darüber hatte ich mit Simon in unseren letzten Briefen gesprochen. Er hatte unsere Mutter sagen hören, ihr sei nun wirklich nicht nach Feiern zumute. Das wundert mich nicht. Und ich stelle mir vor, wie meine Mutter, mein Vater und mein großer Bruder zu dritt an diesem doch besonderen Tag zusammensitzen, meine Mutter die Geschenke öffnet, die die beiden Männer neben ihren Teller gelegt haben, und wie sie mit einem gequälten, vielsagenden Seufzen die Kerzen auspustet. Ich sehe diese unsägliche Situation förmlich vor mir: wie mein Vater ihr einen Kuss auf die Stirn drückt, vielleicht sogar auf die Lippen, falls er dazu noch in der Lage ist, und wie Simon die Augen niederschlägt oder den Kopf abwendet, um nicht mit ansehen zu müssen, welche Anstrengungen unsere Eltern unternehmen müssen, um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass sich nichts verändert hat, obwohl nichts mehr so
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