Das fremde Jahr (German Edition)
ich, käme der ganze Schmerz auf einmal hoch. Also blockiere ich, beherrsche mich, versuche mir zu beweisen, dass ich nicht schwach bin, denn ich bin schließlich wie meine Mutter und schreite würdevoll auf dem Grat der Unbesiegbarkeit, ohne je in den Abgrund zu stürzen. Ich setze mich in den Zeitschriften-Lesesaal und greife auf gut Glück nach einer Tageszeitung, überfliege sie, ohne sie wirklich zu lesen, weil ich lieber die mich umgebenden Menschen beobachte. Aber die Zeitung Lesenden gehören nicht zu meiner Generation, ich frage mich, wo die jungen Leute sind, mit denen ich mich anfreunden könnte. Ich frage mich, ob all diese gemütlich auf ihren Stühlen sitzenden Leute überhaupt gemerkt haben, dass Frühling ist. Und dass man dringend etwas aus seinem Leben machen muss.
Thomas macht Fortschritte auf der Gitarre. Ich nehme meinen Kassettenrekorder mit in sein Zimmer, und wir hören gemeinsam eine Musikkassette, die Simon mir wieder geschickt hat. Thomas versucht das, was er hört, nachzuspielen, er hat ein gutes Gehör, doch es fehlt ihm an Ausdauer, er übt nicht ernsthaft, er ist ungeduldig. Es kommt vor, dass Herr Bergen plötzlich den Kopf zum Türspalt hereinsteckt, und dann fühlen wir uns ertappt, fast schuldig, und machen Fehler, vertun uns mit den Akkorden und sind verkrampft. Manchmal kommt Herr Bergen auch ganz herein und setzt sich auf den Schreibtischstuhl. Er stützt seine Hände auf die gespreizten Knie und nickt zum Takt mit dem Kopf, als wären ihm die Melodien, die wir spielen, vertraut. Bei solchen Gelegenheiten sehen wir uns an, Thomas und ich, beide genervt durch Herrn Bergens Anwesenheit, und dann ist nichts mehr wie zuvor, die Musik wird fade, unsere zögerlichen Griffe sind nicht mehr spontan, es ist, als hätte man uns etwas gestohlen, das bisschen Vertrautheit, das wir so gern miteinander teilen. Am schlimmsten ist, dass wir Herrn Bergens Traurigkeit spüren, seinen Wunsch nach Nähe, seine Erwartung und seine Einsamkeit, doch wir sind unfähig, ihm irgendwas zu geben, wir verschließen uns, weil er ein Erwachsener ist und uns das Schicksal von Erwachsenen nicht interessiert. Wenn er zwei Meter von uns entfernt sitzt, wenn seine schwere Masse auf dem schmalen Schreibtischstuhl lastet, ist das im Zimmer herrschende Gleichgewicht plötzlich verändert, und die Luft, die wir atmen, ist nicht mehr dieselbe. Was uns am meisten stört, ist, dass Herr Bergen nichts Besseres zu tun hat, als die Gesellschaft der Jugend zu suchen, und dass er keinen Unterschied zwischen sich und uns macht. Er würde sicher gern mit uns singen, während wir es unpassend finden, dass er dieselbe Musik mag wie wir, dass er Melodien summt, die uns gehören, die nur uns etwas angehen, uns Heranwachsende in der Diskontinuität, die vorübergehend gegen die Erwachsenen rebellieren. In seinen Trevirahosen und seinen Ledermokassins und gestreiften Hemden
kann
er nicht »London Calling« mitsingen, das wäre eine Beleidigung für
The Clash
und fast die ganze Menschheit. Thomas und ich sitzen nebeneinander auf dem Bett und fühlen uns anders, extrem anders, aus einem anderen Stoff gemacht, edler natürlich, authentischer, leicht entflammbar. Dazu ist die Musik, die wir hören, schließlich da: Sie soll uns vor der Welt der Erwachsenen schützen, dafür sorgen, dass wir sie ertragen, einen Schutzschild bilden, damit sie uns nicht erreicht. Zumindest glauben wir das.
Frau Bergen hat in den ersten Frühlingstagen Geburtstag. Sie wird vierzig. Hinter ihrem Rücken reden wir ganz aufgeregt darüber, sobald sie das Zimmer verlässt. Wir bereiten eine Überraschung für sie vor, und Herr Bergen will, dass es bis zum Schluss geheim bleibt. Die zwei Wochen vor ihrem Geburtstag sind anders als sonst, ich spüre, wie sehr ich inzwischen schon zur Familie gehöre. Ich bin wie ein Bindeglied zwischen den Erwachsenen und den Kindern, gehöre bald dem einen Lager an, werde dann wieder von dem anderen Lager in Beschlag genommen, und dieses Hin und Her, das allen zupasskommt, erschöpft mich und wertet mich gleichzeitig auf. Ich gehöre immer zu einer Gruppe, kann nie einfach nur ich selbst sein. Bei der Vorbereitung des Abends fragt mich Herr Bergen manchmal nach meiner Meinung, wohl eher um zu reden, als dass er sich wirklich dafür interessiert, was ich denke. Er achtet extrem darauf, dass Frau Bergen auch wirklich nichts merkt, es ist richtig rührend, wie er sich zum Telefonieren versteckt, mich manchmal, nachdem er
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