Das fremde Jahr (German Edition)
denken.
Die Kassette, die Simon mir geschickt hat, ist magisch. Keine Musik hat jemals diese Wirkung auf mich ausgeübt. Ich spule sie zurück und höre sie mir immer und immer wieder von neuem in meinem abgedunkelten Zimmer an. Die Gruppe heißt
The Cure
, das Album
Seventeen Seconds
. Ich werde geradezu süchtig danach. Es ist ein Schlag in die Magengrube, der gleichzeitig gut und weh tut, ein Wunder, das mich durchdringt, umhüllt, wiegt, mich gleichzeitig aber auch gegen eine Mauer schleudert. Ich sinke in die Musik ein, wie ich in das Wasser eines Flusses eintauchen würde, und unter meinen blinden Augenlidern sehe ich dann Bilder einer langen Reise, einer Zugfahrt möglicherweise, im ersten Licht des Tages, eine endlose Reise, nur durch unsichtbare, rhythmische Pulsschläge gegliedert. Es ist sehr dunkel am frühen Morgen der Musik von
The Cure
, eine Dunkelheit, durch die Blitze, sprühender Zorn und Hemmungen zucken. Ich spüre meinen Herzschlag an meine Schläfen klopfen, der mich erdrückt, fesselt, in meinen ganzen Körper ausstrahlt, um urplötzlich einem unverhofften Leuchten Platz zu machen, der strahlenden Helligkeit einer Lichtung mit üppigem Gras, die ich mit meiner für das Ende der Adoleszenz typischen Schwermut betrete. Ich drehe die Lautstärke auf, und der satte Klang, der an meine Ohren dringt, die eindringliche Rhythmik dringt in jede meiner Zellen ein, erfasst meine sämtlichen Blutkörperchen, die roten vermischen sich mit den weißen, und ich bin nur noch eine formlose Masse, die einige Zentimeter über meinem Bett schwebt. Ich löse mich auf, verwandle mich, und die Stimme, die zu mir dringt, sagt mir mehr als alle Stimmen, die ich bisher hörte, die Stimmen der Eltern und Brüder, und dennoch ist das, was Robert Smith ausdrückt, dessen englische Wörter mich nur von Zeit zu Zeit erreichen –
calling my name, somebody else, lost in a forest
–, sein eindringliches Timbre, sein Zaudern, mir so seltsam vertraut, dass ich das Gefühl habe, er hätte meinen derzeitigen Zustand in Musik umgewandelt, meine Gliedmaßen verlängert, die Komplexität der Verwirrung eines Mädchens eingefangen, das für immer siebzehn Jahre alt ist.
An diesem Morgen geht es Nina nicht gut. Es ist Samstag, und bis jetzt ist noch niemand aufgestanden. Ich trödle seit einigen Minuten im Wohnzimmer herum, mit nackten Füßen auf dem Teppichboden, mit meiner Kaffeetasse, die auf dem Couchtisch kalt wird, während hinter den Fensterscheiben der Regen fällt. Es ist der erste Tag der Osterferien. Naphta liegt neben mir. Nichts eilt. Ich gehe davon aus, dass sich der Tag bis zum Abend endlos in die Länge ziehen wird, ohne dass irgendetwas geschieht. Ich habe vor, in die Stadt zu fahren, um Batterien für meinen Kassettenrekorder zu kaufen, Körperlotion und andere Dinge, die ein Mädchen so braucht. Da taucht Nina oben an der Treppe auf, in ihrem Schlafanzug, mit aufgeknöpftem Oberteil. Sie hat ihre Puppe in der Hand, und ihre Wangen sind gerötet, als hätte sie geweint. Sie kommt einige Stufen herunter, zögert dann aber, zu mir zu kommen. Sie geht wieder eine Stufe hinauf, kommt zwei herunter, und treibt dieses Spielchen mehrere Minuten lang hinter meinem Rücken. Dann ist sie endlich unten und streckt sich in meiner Nähe auf dem Sofa aus, zieht die Knie an und wirkt in dieser Stellung trotz ihrer Größe wie ein ganz kleines Kind. Nina reagiert auf keine meiner Fragen, also lasse ich sie in Ruhe und gehe auf die untere Toilette. Als ich wieder herauskomme, liegt Nina auf dem Teppichboden, und ich frage mich, wie man sie wieder zum Aufstehen bewegen kann. Sie will nicht reden, will weder angesprochen noch angeschaut werden. Als der Briefträger geklingelt hat und einen Schritt in den Flur kommt, spielt sie ein leidendes, stöhnendes Kind, der Länge nach ausgestreckt, Arme und Beine ausgebreitet. Ich habe Mühe, den Mann davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung ist, dass die Leute, die in diesem Haus wohnen, nur etwas speziell sind, dass man hier wie in Zeitlupe lebt, dass grundsätzlich nichts getan wird, das nicht auch noch bis zum nächsten Tag warten kann. Ich nehme den großen braunen Umschlag entgegen und quittiere den Empfang. Als der Briefträger wieder geht, lässt er eine Wasserpfütze im Eingangsbereich zurück. Ich gehe mit dem Aufwischlappen drüber und frage mich, was wohl in dem Umschlag ist, der an Frau Bergen adressiert ist und von einem Labor für medizinische Untersuchungen
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