Das fremde Jahr (German Edition)
kommt. Gibt es eine Verbindung zwischen dem Umschlag, den ich auf den Tisch lege, und den Schmerzen, die Nina auf dem Teppichboden vortäuscht? Ich könnte aus dem Haus gehen und den Bus nehmen, ich könnte einen Zettel auf dem Tisch hinterlassen, ich könnte Nina Bescheid sagen, ich könnte aber auch wortlos verschwinden, doch ich warte geduldig, bis die Türen im oberen Stockwerk aufgehen werden, im Bad das Wasser läuft, endlich der Holzfußboden im Gang knarrt. Und während ich warte, lege ich Wurst, Salatblätter und Käse, den ich in kleine Würfel schneide, auf einen großen Teller, den ich dann auf den Tisch stelle. Ich koche Kartoffeln in einem Topf und verrühre einen Quark mit Schnittlauch und Knoblauch. Ich nehme Nina an der Hand, und wir gehen zusammen in ihr Zimmer, wo sie mir den Alptraum erzählt, der sie nicht schlafen ließ. Sie hat von einer Mauer im Wald geträumt, hinter der ihre Mutter war und ganz laut gerufen hat, aber niemand hat sie gehört. Ich erkläre Nina, dass ihre Mutter doch da ist, im Zimmer nebenan, und dass sie sicher bald aufwachen wird. Doch es ist Thomas’ Zimmertür, die sich als Erste öffnet. Er geht pinkeln, dann kommt er zu uns, mit noch verquollenen Augen und einem Abdruck seines Kissens auf der Wange. Wortlos setzt er sich auf den Boden. Dann hebt er den Kopf, schaut mich an und fragt, wann ich nach Frankreich zurückkehren werde. In seiner Stimme liegt ein fast aggressiver Unterton. Ich erkläre Thomas, dass sich mein Abreisedatum nicht geändert hat, Anfang Juni, kurz bevor der Sommer beginnt, werde ich gehen.
Es ist das erste Mal, dass wir zu fünft in den Supermarkt gehen. Den Einkaufswagen zu füllen ist eine fast unmögliche Aufgabe. Ich habe Angst, dass wir den ganzen Abend hier zubringen könnten. Herr Bergen sieht wie eine Statue aus, die den Haltegriff des Einkaufswagens umklammert, Frau Bergen hängt am Arm ihres Gatten, und die beiden laufen planlos durch die Gänge, während Nina den Wagen mal nach rechts, mal nach links zieht, Müslipackungen, Karamellpudding und Farbstifte haben möchte. Frau Bergen weiß nicht, ob sie ja oder nein sagen soll, sie ist meist unentschlossen, Herr Bergen tritt kaum bestimmter auf, er scheint mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein, aber wo? Thomas verschwindet immer wieder und taucht dann wieder auf. Ich habe die Einkaufsliste in der Hand, die Frau Bergen und ich zusammen geschrieben haben, lang und kompliziert, mühselig, aber komplett. Herr Bergen ist mitgekommen, um uns zu helfen, die Milch und das Bier zu tragen, den Orangensaft und das Mineralwasser. Ich versuche zu ergründen, wie man sich in diesem riesigen Supermarkt zurechtfinden kann, in den wir nur selten gehen; wenn ich könnte, würde ich allein einkaufen gehen, doch für die Bergens ist das Ganze offenbar eine Art Ausflug, als müssten sie Zeit totschlagen. Sie halten den Einkaufswagen bei jeder Gelegenheit an, verweilen vor den Hi-Fi-Geräten, vergleichen die Videorekorder, und anschließend interessiert sich Frau Bergen für die Koffer und erwartet, dass ihr Mann ihr verschiedene Modelle von Reisetaschen präsentiert, wenn möglich nicht zu wuchtig, mit Taschen und Rollen. Sie inspiziert die Taschen mit kritischer Miene, schüttelt schließlich den Kopf und kann sich noch nicht entscheiden. Der Einkaufswagen ist immer noch leer, wir müssen das Obst und Gemüse aussuchen und abwiegen, an Tee und Kaffee denken, an Kuchen, Tiefkühlkost, wir brauchen Fleisch, Wurst, Käse und Eier, und dafür müssen wir Meter um Meter von Gängen zurücklegen. Dann ist Frau Bergen plötzlich müde und möchte sich setzen. Sie scheint am Ende ihrer Kräfte. Vor diesem Moment habe ich mich gefürchtet, ich dachte seit Tagen, dass man ihr ihre Krankheit etwas anmerkt. Ich habe zeitweise fast daran gezweifelt, dass die Diagnose wirklich stimmt, da mir die Krankheit unsichtbar und zahm erschien und Frau Bergen trotz der Therapie nicht alle Haare verloren hat. Wenn man sie so sieht, käme man nie auf die Idee, dass sie Krebs hat. Sie bindet sich zwar immer häufiger ein Seidentuch um den Kopf, aber ich kam nicht auf die Idee, dass es etwas mit der Chemotherapie zu tun haben könnte. Dieses Wort ist im Übrigen nie gefallen, ein Wort, das mir sicher aufgefallen wäre, wenn ich es gehört hätte, aber vielleicht habe ich wieder einmal das Gegenteil von dem verstanden, was vor sich geht. Frau Bergen kann nicht weitergehen. Wir müssen sie unverzüglich irgendwo hinsetzen –
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