Das Fremde Mädchen
Emma, die Herrin, führte ihren Haushalt offenbar sehr gut, denn die Wandbehänge und Polster waren fein bestickt, und der Webrahmen in der Ecke, auf dem ein halb fertiggestelltes Tuch mit schönen Farben zu sehen war, bewies, daß alles aus eigener Fertigung stammte.
»Ich hoffe, Ihr habt gut geschlafen, Brüder«, sagte Cenred, indem er sich erhob und sie begrüßte. »Habt Ihr Euch von Eurer Schwäche gestern abend gut erholt? Wenn es etwas in meinem Haus gibt, das Euch nicht angeboten wurde, dann fragt nur danach. Benutzt mein Haus wie Euer eigenes. Und ich hoffe, Ihr werdet bereit sein, noch ein oder zwei Tage zu bleiben, bevor Ihr wieder aufbrecht.«
Cadfael teilte diese Hoffnung mit ihm, aber er befürchtete, der manchmal allzu gewissenhafte Haluin könnte Einwände erheben. Er hatte jedoch noch nicht einmal den Mund geöffnet, als Cenred schon fortfuhr:
»Denn ich habe eine Bitte an Euch... ist einer von Euch ein geweihter Priester?«
7. Kapitel
»Ja«, sagte Haluin nach kurzem, überraschtem Schweigen.
»Ich bin Priester. Ich absolvierte, als ich ins Kloster kam, die Studien für die niederen Weihen und wurde, als ich dreißig war, zum Priester geweiht. Wer jung in den Orden kommt und bereits lesen kann, wird zu diesem Weg ermuntert. Was kann ich denn als Priester für Euch tun?«
»Ihr sollt eine Ehe schließen«, erklärte Cenred.
Diesmal währte das Schweigen noch länger, und etwas beunruhigt und nachdenklich betrachteten sie ihn. Denn wenn in diesem Haus eine Heirat bevorstand, dann hätte man sich doch sicherlich schon um einen Priester bemüht, der die Umstände und die Beteiligten kannte, und brauchte nicht auf einen Benediktiner zurückzugreifen, den der Schnee hierher verschlagen hatte. Cenred bemerkte Haluins zweifelnden Gesichtsausdruck.
»Ich weiß, was Ihr denkt – daß es die Sache meines eigenen Gemeindepriesters sei. Doch hier in Vivers gibt es keine Kirche.
Ich habe zwar die Absicht, eines Tages eine Kirche zu stiften und bauen zu lassen, aber im Augenblick sogar ist die nächstgelegene Gemeindekirche ohne Priester, weil der Bischof, der das Recht zur Ernennung hat, noch keinen Nachfolger benannt hat. Ich wollte eigentlich einen Vetter holen lassen, der in einem Orden lebt, aber wenn Ihr bereit seid, können wir ihm die Winterreise ersparen. Ich kann Euch versichern, daß nichts Anrüchiges dabei ist, und es gibt gute Gründe, die Eheschließung mit einiger Eile zu vollziehen. Setzt Euch zu mir, dann will ich Euch alles berichten, was Ihr wissen müßt, und dann sollt Ihr selbst urteilen.«
Mit der Heftigkeit und den großzügigen Gesten, die seinem Wesen zu entsprechen schienen, kam er ihnen entgegen und stützte Haluin am Unterarm, während dieser sich auf die gepolsterte Bank vor der holzvertäfelten Wand setzte. Cadfael ließ sich neben seinem Freund nieder und war es zufrieden, zuzusehen und zu lauschen, da er kein Priester war. Er mußte keine Entscheidung treffen, und die Verzögerung kam ihm um Haluins willen gerade recht.
»Auf seine alten Tage«, erklärte Cenred, indem er unmittelbar zur Sache kam, »heiratete mein Vater ein zweites Mal, eine dreißig Jahre jüngere Frau. Ich war bereits selbst verheiratet und mein erster Sohn war ein Jahr alt, als meine Schwester Helisende zur Welt kam. Die beiden Kinder, Mädchen und Junge, wuchsen zusammen in meinem Haus auf wie Bruder und Schwester, so nahe standen sie einander. Und wir Älteren nahmen es für selbstverständlich und waren froh, daß die beiden einander hatten. Die Schuld trifft vor allem mich.
Ich bemerkte es nicht, als sie plötzlich mehr als Spielgefährten waren. Ich hätte nicht gedacht, daß sich kindliche Freundschaft und Zuneigung nach so vielen Jahren noch in etwas Gefährliches verwandeln könnte. Aber ich konnte den Tatsachen nicht ausweichen, Brüder, sobald ich sie gesehen hatte und gezwungen wurde, sie zu sehen. Man ließ die beiden viel zu lange und viel zu liebevoll allein miteinander spielen. Sie entwickelten direkt unter meiner Nase eine ungehörige Zuneigung, und ich war mit Blindheit geschlagen, bis es fast zu spät war. Sie lieben einander auf eine Art und in einem Maße, das für so nahe Verwandte unmöglich ist. Gott sei Dank haben sie nicht im Fleische gesündigt, noch nicht. Ich hoffe, ich bin rechtzeitig erwacht. Gott weiß, was für die beiden am besten ist, ich will sie glücklich sehen, aber welches Glück kann es in einer Liebe geben, die eine Abscheulichkeit ist? Besser, sie
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